Riccardo H. Wood

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                                                     KREUZFAHRT zartbitter

 

                                                                                                   Reality Roman

 

 

 

Copyright © 2019 Riccardo H. Wood

                                                                                            Ausgabe 1.1 / 06-2019

 

 

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                                                                                                           Prolog

 

Ich werde zu einer zweiwöchigen Kreuzfahrt aufbrechen. Um mich unter die Lebenden zu begeben, auf neue Gedanken zu kommen, mit dem Wunsch, mich von der freudigen Urlaubsstimmung anderer Menschen anstecken und beleben zu lassen. Ich möchte mit der Natur eins werden, mich den Naturgewalten hingeben, mir meinen lang gehegten Wunsch erfüllen, die Schönheit und Anmut des Nordens selbst zu erfahren. Ich möchte über mein Leben nachdenken und zu einer Entscheidung gelangen. Schön, dass du mich begleitest, danke dafür. Ja, du hast richtig gelesen, ich meine dich, genau dich!

Entschuldige bitte, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe, das war unhöflich. Ich bin Elena. Gerade jetzt, während du die ersten Worte meiner Aufzeichnungen liest, kann ich dir nicht versprechen ob ich mich zu diesem Zeitpunkt noch unter den Lebenden befinde. Es tut mir leid dir das so unverblümt sagen zu müssen, aber es ist nur die Wahrheit, wenn auch eine schreckliche Wahrheit. Hab bitte keine Angst, ich verspreche dir, dass wir die Reise, trotz der gegebenen Umstände, zusammen genießen können.

Heute, einen Tag bevor wir unsere gemeinsame zweiwöchige Kreuzfahrt antreten, beginne ich damit, einen Teil meines Lebens und die Eindrücke dieser ganz besonderen Reise zu dokumentieren. Ich kann dir leider nicht sagen welchen Weg ich am Ende unserer Reise beschreiten werde, denn ich weiß es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht.

Im Verlauf der nächsten beiden Wochen hoffe ich Klarheit zu erlangen und zu einer Entscheidung zu kommen, die ich schon lange vor mir herschiebe. Mein beschwerlicher Lebensweg scheint sich zu gabeln, bietet mir einzig und allein zwei Möglichkeiten an:

Ein steiniger, mühsamer, mir alles abverlangender Weg, von dem ich nicht weiß, ob es mir möglich ist die Kraft und Energie weiterhin aufzubringen, um ihn auch in Zukunft zu beschreiten.

Die Alternative ist eine kurze, aber nicht unattraktive Sackgasse, vor der ich allerdings große Angst habe. Eine Sackgasse, die an einem tödlichen Abgrund endet.

Ob meine Aufzeichnungen jemals an die Öffentlichkeit gelangen oder für immer mein Geheimnis bleiben werde ich erst am Ende der Reise entscheiden.

 

Die ersten Worte vermag ich nur ungelenk aufs Papier zu bringen. Ich sitze an meinem vertrauten Schreibtisch und führe einen kleinen Kampf mit den Worten. Schönschrift war nie mein Ding, dafür kann ich sehr schnell schreiben. Meine Bemühungen, einigermaßen lesbare Wörter aufs Papier zu bringen, strengen mich sehr an. Damit ich meine vielen Flüchtigkeitsfehler ausbessern kann, verwende ich einen Bleistift und einen überdimensionalen Radiergummi. Wenn ich ihn weiterhin so häufig benutze, wird schon nach wenigen Tagen nichts mehr von ihm übrig sein, denke ich schmunzelnd, was mich ein wenig an meine Schulzeit erinnert.

Ich hoffe, es ist in Ordnung wenn ich dich duze, denn auf diese Art fällt es mir leichter meine Geschichte zu erzählen. Dann fühlt es sich so an, als ob ich sie gerade meiner besten Freundin oder einem guten Freund anvertraue. Ich werde dich mitnehmen auf meine ungewöhnliche Reise, zumindest ein großes Stück des Weges, so lange ich es verantworten kann.

 

 

 

                                                          Kapitel 1: Aufbruch zu unbekannten Ufern

 

                                                                                         Tag 1: Anreise Hamburg

 

Ich sitze gerade im ICE, Fahrtrichtung Würzburg. Es ist Ende Juni, Samstag, kurz vor Acht und obwohl ich es gewohnt bin früh aufzustehen, steckt mir die Müdigkeit noch in den Knochen. Kein Wunder, dass ich am laufenden Band gähnen muss. Es ist meine erste Kreuzfahrt die mich erwartet, weshalb ich innerlich etwas aufgewühlt bin. Die Entscheidung was ich in den Koffer packe, fiel mir nicht leicht. Ja, zugegeben, was Unschlüssigkeit betrifft kann ich das Klischee der Frau voll bedienen. Im Kaufhaus zehn Kleidungsstücke anprobieren, drei mit nach Hause nehmen, sie vor dem Spiegel erneut prüfen, um sie am nächsten Tag allesamt wieder zurückzugeben. Vielleicht wirst du jetzt den Kopf schütteln, aber ich kann nun mal nicht über meinen Schatten springen. Am Ende habe ich mich wegen der Schlepperei für Minimalismus entschieden, also in erster Linie Zwiebellook. So bin ich mit wenigen Kleidungsstücken für jegliche Wetterlage gerüstet.

Nachdem ich mehrmals checke ob ich nichts vergessen habe, meine Fahrkarte, der Pass, meine Reiseunterlagen und die Kreditkarte auch wirklich da sind, lehne ich mich entspannt zurück. Na ja, es war zumindest ein Versuch, ich bin alles andere als relaxt, denn die Nervosität und mein pochender Puls haben mich deutlich im Griff. Früher war das anders, war ich viel cooler, aber seit meiner Krankheit ist mein Selbstbewusstsein auf die Größe einer Haselnuss geschrumpft, was die Nervosität im Gegenzug steigen lässt. Ich kontrolliere alles tausend Mal, weil ich ganz sicher gehen möchte, dass ich das Schiff nicht verpasse.

Ich versuche erneut zu entspannen und atme mehrmals tief durch, Nase ein, Mund aus, Nase ein, Mund aus, währenddessen sich mein Blick das erste Mal nach draußen richtet. Stell dir vor, du sitzt gerade jetzt direkt neben mir, in freudiger Erwartung auf eine schöne Reise, in deren Verlauf du mich nach und nach kennenlernen und vielleicht auch ein Stück weit verstehen kannst. Du wirst alles hautnah miterleben und an meinen Gedanken und Gefühlen teilhaben, versprochen.

Von Aschaffenburg aus fahren wir, man kann fast sagen gleiten wir, am Main entlang, der eher aussieht wie ein ruhiger, stiller, nicht endender See, als ein fließendes Gewässer. Hin und wieder schweben feuchte, grauweiße Nebelschwaden vermeintlich völlig schwerelos über der Wasseroberfläche, so, als ob sie den Gesetzen der Schwerkraft nicht gehorchen müssten, was mich auf schönes Wetter hoffen lässt. Es fährt sich entspannt und ruhig, ich bin überrascht wie angenehm das Reisen mit der Bahn sein kann. Mehrere kleine, verschlafene Orte, tiefgrüne, dichte Wälder, einzelne lichte Baumgruppen und üppige, sattgrüne Wiesen auf sanften Hügeln fliegen in hohem Tempo vorbei, bis mir fast schwindelig wird.

Der freundliche Kellner reicht Kaffee, der mir als Wachmacher dienen soll. Ich rieche intensiv daran, um den köstlichen, aromatischen Duft aufzusaugen, den es gratis zum Trinkgenuss dazu gibt. Im Moment klammere ich mich an jeden Genuss der meine Tage bereichern kann. Vielleicht magst du dir auch eine Tasse Kaffee holen, ich warte gerne auf dich.

 

Darf ich fortfahren? Meine Wohnung habe ich ganz ordentlich verlassen, alle verderblichen Lebensmittel sind aufgebraucht, das war mir wichtig, denn ich bin nicht sicher wer die Wohnung als nächstes betreten wird.

Jetzt packe ich mein Tomaten-Mozzarella-Brötchen aus, ein riesiges Teil, welches ich vor der Abfahrt teuer erstanden habe. Mist, verdammt, ich hasse diese weiße Pampe die sie auf den Belag gespritzt haben, die schon beim ersten Bissen zwischen den Hälften herausgequollen ist und bereits einen hässlichen Fleck auf meiner frisch gewaschenen Jeans hinterlassen hat, noch bevor ich an Bord komme. Schmeckt ansonsten aber sehr lecker, schade, ich kann dir leider nichts anbieten. Gerade während ich mir das letzte Stück gierig in den Mund stopfe und versuche, meine klebrigen Finger erfolglos an der Serviette abzuputzen, wird der Bahnhof Würzburg aus einem krächzenden Lautsprecher angekündigt und schon kurz darauf quietschen die Bremsen, was meinen Puls sogleich in die Höhe schnellen lässt.

Verdammt, das ging aber rasch, hätte wohl nicht so viel mit dir quatschen sollen. Mit einem Anflug von Panik schnappe ich Jacke und Trolley, um durch den schmalen, mir unendlich lang erscheinenden Gang hindurch in Richtung Tür zu hasten. Immer wieder stoße ich an die zwischen den Sitzen geparkten und in den Gang hineinragenden Trolleys anderer Fahrgäste. „Entschuldigung“, jetzt habe ich noch den Fuß eines Reisenden überfahren, gut, dass ich nicht so viel eingepackt habe. Der Rest meines Kaffees steht noch im Abteil, aber es hätte schlimmer kommen können. Wenigstens du kannst in Ruhe austrinken.

Mein Aufenthalt im Bahnhof Würzburg beträgt circa eine Stunde, extra lang, weil ich ein Mensch bin der auf Sicherheit bedacht ist und mir bei der Buchung sieben Minuten zum Umsteigen einfach zu kurz vorkamen. Auf der Anzeigetafel kann ich allerdings erkennen, dass ich das locker geschafft hätte, aber nun habe ich Zugbindung und muss warten.

Ich streife umher wie eine streunende Katze, ohne Ziel, während ich fast jede Minute auf meine Uhr schaue, damit ich mich rechtzeitig auf den Weg zum Bahnsteig machen kann. Ich stöbere durch dutzende von bunten Zeitschriften, ohne mich wirklich dafür zu interessieren, durchforste Tische mit kuscheligen, süßen Plüschtieren und lasse meinen Appetit vom Duft frisch gebackener Brötchen und Croissants anregen. Aber auf dem Schiff gibt es sicher auch viele Köstlichkeiten und ich möchte mir nicht schon jetzt den Magen bis zum Anschlag vollstopfen. Trotzdem kann ich nicht widerstehen und kaufe mir ein verdammt verführerisch riechendes, frisch gebackenes Croissant, sozusagen als Notration für alle Fälle, denn es gilt noch circa dreieinhalb Stunden Fahrt zu überbrücken.

 

Schon eine Viertelstunde früher stehe ich oben auf dem ungemütlichen, zugigen Bahnsteig, um den Anschluss ja nicht zu verpassen und anhand der Anzeigetafel mehrmals zu überprüfen, ob ich mich am richtigen Gleis befinde. Ich kann nicht widerstehen, das Croissant muss dran glauben, denn es riecht sogar durch die Tüte hindurch und ruft: „Beiß mich.“ Ja, natürlich trieft es vor Fett, das kann ich schon an der durchgeweichten Serviette erkennen, aber es schmeckt einfach göttlich.

Sorry, wenn ich dir schon wieder Appetit mache. Gegenüber erblicke ich die steil aufragenden fränkischen Weinberge, deren Rebstöcke wie mit dem Lineal gezogen in exakt parallel verlaufenden grünen Linien bergab verlaufen. Sie lassen mich sofort an ein gutes, kühles und fruchtiges Glas Bacchus denken, dessen leichte Säure schon beim Gedanken daran ein Prickeln in meinem Gaumen und ein Will-ich-haben-Gefühl in meinem Gehirn auslöst, das ich nicht so einfach verdrängen kann.

 

Die Wagennummer zwei, in dem sich mein reservierter Platz befindet, rauscht an mir vorbei. Mist, egal, einfach erst mal einsteigen. Nach gefühlt zwanzig Minuten erreiche ich gehetzt und mit von Schweißperlen übersäter Stirn den richtigen Wagen und somit auch den gebuchten Sitzplatz. Meinen Trolley hieve ich mit Unterstützung eines freundlichen Herrn ganz oben in die Gepäckablage, runter kommen sie alle, denke ich schon etwas weiter. Hoffentlich hält meine Deo durch, nicht dass ich bereits beim Einchecken müffele. Ich bin wohl der einzige dumme Fahrgast der an der falschen Stelle stand. Vermutlich gibt es irgendwo Orientierungshilfen am Bahnsteig, hab ganz vergessen mich zu informieren.

Mit einem tiefen Seufzer lasse ich mich in den Sitz fallen, Hauptsache ich bin da. Geschafft, jetzt muss ich nicht mehr umsteigen, jetzt kann eigentlich nichts mehr schief gehen. Meine Sitznachbarin regt mich auf, scheint andauernd auf meinen Fleck zu schielen, wenn alle Stricke reißen schneide ich den einfach raus und zerfleddere den Stoff etwas, das fällt heutzutage weniger auf als Flecken, die bis jetzt noch keine Mode waren. Im Geiste strecke ich ihr die Zunge raus, wie eine freche Göre und nun verordne ich mir wieder ein paar tiefe Atemzüge, Nase ein, Mund aus, es tut gut, ich entspanne etwas.

 

Eventuelle Verspätungen nicht mit eingerechnet, haben wir nun gut drei Stunden Zeit bis zum nächsten Ziel, dem Hamburger Hauptbahnhof. Die Zeit werde ich nutzen, um ein wenig mit dir zu plaudern, um dir zumindest ein grobes Bild von mir zu geben. Ich bin fünfundvierzig Jahre jung, ein Meter fünfundsiebzig groß, schlank, aber nicht dünn. Mit meinem Körper, auch mit dem was ich an weiblichen Attributen zu bieten habe, bin ich nach wie vor zufrieden, ohne dass ich damit angeben möchte. Mein Haupt zieren volle, brünette, bis über die Schulter reichende Haare, die ich wie heute meist offen trage. Meine Augen beschrieb mein Exmann als warm, rehbraun und unwiderstehlich. Nun weißt du es schon, ich bin geschieden. Kinder die darunter leiden müssten habe ich keine, was die Sache sicherlich etwas einfacher macht.

Natürlich war es ein weiterer schwerer Schlag für mich, als mir Frank offenbarte, dass er mich verlassen wird, aber ich konnte und wollte ihn nicht aufhalten. Er kann nichts dafür, ich verstehe ihn sogar, weshalb ich ihm, dumm wie ich bin, keine Steine in den Weg gelegt habe, obwohl ich ihn noch immer liebe. Während ich mich umschaue fallen mir mehrere Kofferbanderolen auf, die ebenso bunt wie meine bedruckt sind. Aha, wir sind nicht die einzigen mit diesem Ziel. Irgendwie komme ich mir gerade ziemlich gläsern vor, jeder kann sehen wohin unsere Reise geht.

 

Gegen dreizehn Uhr dreißig, es ist kaum zu glauben, der Zug ist pünktlich um zwölf Uhr vierundfünfzig in Hamburg angekommen, steige ich in den blau-weißen Shuttlebus, der die Kreuzfahrer vom Bahnhof zum Terminal befördert. Um meinen Trolley muss ich mich nun nicht mehr kümmern, was ich mit Erleichterung aufnehme, denn das Gepäck wird von vielen fleißigen Heinzelmännchen an Bord gebracht.

Schau dir das an, es ist kaum zu fassen. Im ersten Moment sehe ich nur eine riesige Front mit Fenstern und Balkonen. Es sieht aus wie ein sehr breites Hochhaus, nur viel schöner und bunter gestaltet. Erst als ich meinen Kopf nach links und rechts drehe, kann ich den Bug und das Heck erkennen, es handelt sich also doch um ein Schiff.

Allmächtiger, das ist der glatte Wahnsinn, völlig verrückt, schierer Gigantismus, so wirkt es zumindest in diesem Moment auf mich. Es ist die „Marena“, ein gerade erst vier Monate junges Kreuzfahrtschiff einer neu gegründeten Reederei. Kaum zu glauben, dass sie nicht einfach umkippt wie ein Fahrrad, das man abstellt ohne den Ständer auszuklappen. Ich verstehe nicht viel von Schiffstechnik, aber vermutlich steckt das Steh-Auf-Männchen System dahinter. Unten schwer, oben leicht. Ja, so muss es sein. Ganz geheuer ist mir das allerdings nicht, hoffentlich kommt keine Monsterwelle die das Teil einfach umwirft. Richtige Angst habe ich aber nicht wirklich, denn damit würde sich meine bevorstehende Entscheidung erübrigen. Ich möchte dir zwar nicht andauernd Sorgen machen, aber durch diese Gedanken musst du durch, wenn du dich entschlossen hast mich auf diesem Weg zu begleiten.

 

Das Einchecken funktioniert trotz des großen Andrangs reibungslos und ehe ich mich versehe, bin ich von einem Fotografen hinter einem großen Eichenholz-Steuerrad, zusammen mit einem Matrosen im Arm abgelichtet und nachdem ich den unendlich langen Wurm von Gangway durchschritten habe, finde ich mich im Bauch des monströsen Schiffs wieder.

 

 

 

                                                                                                   Zur Information:

 

Diese Leseprobe umfasst nur einzelne Abschnitte und nur einen Bereich des Buchs, damit im Vorfeld keine wesentlichen Bestandteile der Handlung verraten werden. Textsprünge sind mit … gekennzeichnet.

 

 

Während sich mein Blick über die Reling nach unten richtet, fühlen sich meine Knie plötzlich weich wie Butter an und mein Herz pumpert, obwohl ich nicht weiß, ob es an der Anstrengung oder an der Höhe liegt. Grob überschlagen könnten es circa vierzig bis fünfzig Meter sein, gefühlt sind es jedoch einhundert.

Da steht sie, die Elbphilharmonie, die ich ehrfürchtig betrachte. Ein abenteuerliches Glashaus auf rotem Sockel, eines der größten Desaster Hamburgs. Aber es besitzt schon eine gewisse Anmut und ist wohl zu einem richtigen Publikumsmagnet geworden, Glück im Unglück für die Stadt.

FKK-Deck, diese drei Anfangsbuchstaben stechen mir sofort ins Auge. Es sind nur wenige Schritte bis ich einen vorsichtigen Blick in den geschützten Bereich werfen kann. Nachdem ich weit und breit niemanden entdecken kann, wage ich mich ein Stück weiter, um den Sichtschutz herum. Liegen, Handtücher und zwei Whirlpools, es ist alles da was man braucht. Ist das meine Rettung? Kann ich mich hier einfach nackig machen? Aber du musst weggucken, zumindest wenn du ein Mann bist, nein, war ein Scherz, ha, ha!

Etwas ungewohnt fühlt es sich schon an, während ich mich unter freiem Himmel abdusche, nackt, sozusagen mitten in Hamburg, und nun in den angenehm temperierten Whirlpool steige. Ich entscheide mich spontan für einen der Knöpfe und bereits nach wenigen Sekunden umschmeicheln meinen Körper Millionen von weichen, wohlklingend blubbernden, sanften Luftblasen. Mit geschlossenen Augen genieße ich diesen köstlichen Moment, hier kann ich entspannen, abschalten, ich bin angekommen, es ist ein Traum. Mal sprudelt es an den Füßen, mal bahnen sich die prickelnden Luftblasen am Po und Rücken entlang den Weg nach oben, oder gleichzeitig rund um meinen ganzen Körper, entsprechend der Einstellung die ich vorgebe.

 

Nachdem ich mich lange genug im warmen Wasser geaalt und entspannt habe und gerade mit Schrecken auf meine runzeligen Finger starre, beschließe ich, das Becken zu verlassen. Natürlich bin ich neugierig auf den Rest des Schiffs, du nicht auch? Gerade als ich splitternackt auf der obersten Stufe der Treppe ankomme, betritt ein betagtes Pärchen das FKK-Deck. Flucht nach vorn, oder nochmal rein ins Becken? So prüde bin ich nun auch wieder nicht, weshalb ich Opi den Anblick gönne, kostet ja nichts.

Während ich in der offenen Dusche ohne Abtrennung stehe, schaut sich das Pärchen in aller Ruhe um. Sie, mit edlem Kostüm, schickem Hütchen und High-Heels, mit denen selbst die meisten dreißigjährigen Mädels Probleme hätten. Er, am Stock gehend, in feinem Zwirn, mit Krawatte und Sakko. Vielleicht verstehen sie das Wort FKK nicht, oder sie sehen nicht mehr gut, was mir entgegen käme. Als ich fertig bekleidet das Deck verlasse, macht sich das Pärchen gerade in zwei Liegestühlen breit.

 

...

 

Gespannt auf das was sich hinter der Tür verbirgt, stecke ich meine Bordkarte in den Schlitz unter der Klinke. Ein kleines, grünes Lämpchen blitzt kurz auf und die Tür lässt sich öffnen. Meine Augen leuchten, Wahnsinn, ich bin begeistert, du auch? Tut mir leid, du kannst es ja nicht sehen, aber dazu später.

Schnell ins Bad, Pipi machen, meine Blase drückt mittlerweile gewaltig. Huch, jetzt bin ich aber erschrocken, die Spülung macht ein riesiges Getöse, da müsste man drei Hände haben. Zwei, um sich die Ohren zuzuhalten und eine, um den Spülknopf zu drücken. Irgendwie fühle ich mich gezwungen nochmals zu spülen. Linke Hand am linken Ohr, rechter Oberarm am rechten Ohr und vorn hinuntergebückt mit der rechten Hand spülen, geht doch. In der Kloschüssel scheint es einen riesigen Sog zu geben, ich stelle mir gerade vor wie ein gut bestückter Mann im Sitzen spült und sein bestes Stück in den Schlund des gefräßigen WCs hineingesaugt wird, dann ist das Teil weg, aua.

 

Trotz des Tageslichts betätige ich nun alle Lichtschalter welche ich in der Kabine verstreut finde, es sind viele, aber ich brauche es möglichst hell. Früher war das nicht so, aber, seitdem es mich erwischt hat, fühle ich mich in schlecht ausgeleuchteten Räumen nicht mehr wohl. Vermutlich ist es ein Tribut meiner Krankheit, was meine Stromrechnung zuhause ziemlich belastet. Als Nächstes reiße ich die große Schiebetür auf, trete auf meinen kleinen, aber ausreichend großen Balkon hinaus, um die Aussicht auf Hamburg und die klare, aber freundlich warme Seeluft zu genießen.

Es herrscht reges Treiben, an Land und auch auf der Elbe. Mächtig große Schiffe schieben sich, majestätisch langsam, wie riesige Fremdkörper durch die Stadt. Fähren kreuzen den unruhigen Fluss hektisch und wenige kleine Boote schaukeln wie Nussschalen auf dem aufgewühlten, trüben Fahrwasser.

Der direkte Blick über die Reling nach unten weckt die tief in mir schlummernde Höhenangst und sorgt schon wieder für ein flaues Gefühl in meinem Magen, aber ich bin sicher, dass ich mich daran gewöhnen werde. Erst mal rein und etwas genauer umsehen. Ach du heilige Sch…, entschuldige bitte, aber mir ist fast das Herz stehen geblieben, als der Signalton für die Seenotrettungsübung überraschend und unbarmherzig laut ertönte, was mich innerlich in Aufruhr versetzt hat.

 

 

Mein Plan vornehm, Gang für Gang und in der üblichen Reihenfolge zu speisen, ist kläglich gescheitert, nachdem ich es nicht geschafft habe an den verführerisch duftenden Hauptspeisen vorbeizukommen. Nun befinden sich fünf verschiedene Hauptgerichte mit Beilagen und ein paar Blättchen Alibisalat dicht gedrängt und aufgehäuft auf meinem Teller, was mir nun ganz peinlich ist. Ich ärgere mich über mein eigenes ungebührliches Benehmen und beschließe schnell einen Teil wegzuessen, um mich nicht schon am ersten Tag vor den anderen Gästen zu blamieren.

Danach gibt es einen extra Salatteller, Wurzelbrot mit Käse, drei Eisbällchen und ein Stückchen Kuchen. Ich bin erstaunt, welche Mengen in meinen Magen hineinpassen, obwohl es für mich nichts Neues ist, dass ich über den Hunger hinaus esse. Das liegt offensichtlich daran, dass mein Magen kein guter Kostverwerter ist und den größten Teil der Speisen wohl nicht aufschließen kann und deshalb einfach durchschleust, was für viele von Übergewicht geplagte Menschen sicherlich sehr nützlich wäre.

Erst jetzt merke ich, dass ich mich hoffnungslos überfressen habe, ich kann es leider nicht anders ausdrücken. Ein extrem unangenehmes Völlegefühl zwingt mich dazu, einen edlen Grappa Prosecco zu bestellen, den ich sofort hastig hinunterkippe, damit er in meinem Magen für Ordnung sorgt. Natürlich ärgere ich mich über meine eigene Dummheit, es war nicht das erste Mal, dass ich übertrieben habe. Ja, zugegeben, jetzt bin ich ziemlich platt, aber es spricht ja nichts dagegen hier etwas sitzen zu bleiben.

Während ich an meinem köstlichen Weißwein nippe, um die Schwere meiner Essensschwangerschaft zu vertreiben und um wieder etwas Leichtigkeit zu erlangen, werfe ich in Gedanken einen Blick zurück, auf mein bisheriges Leben. Vielleicht wäre es an der Zeit etwas von mir zu erzählen. Ich hoffe, es wird dir nicht zu langweilig. Aber keine Angst, ich werde mich bemühen mein Leben und meine Krankheit in kleinen, verträglichen Häppchen zu servieren, die ich dir während unserer Reise nach und nach anbiete. Wie es mit mir so weit kommen konnte und auch die Zusammenhänge, weshalb es geschehen ist, darüber habe ich schon sehr häufig nachgedacht. Jetzt, zu dem Zeitpunkt, an dem das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, kann ich es zwar nachvollziehen, aber wirklich verstehen kann ich es trotzdem nicht. Es ist wichtig meine Kindheit mit einzubeziehen, damit du die Zusammenhänge erfassen kannst.

 

 

                                                                   Kapitel 2: Ablegen mit Herzklopfen

 

Es ist punkt zwanzig Uhr fünfundvierzig, als ich ein beängstigendes Rumpeln unter meinen Füßen spüre, welches ich den Maschinen und den Schiffsschrauben zuordne. Die fast armdicken Seile sind bereits eingeholt, also gerade jetzt, in diesem Moment, beginnt unsere Reise.

Mein Herz pocht, eine Mischung aus Nervosität, Angst und Unruhe breitet sich rasend schnell in mir aus, denn, außer den Eckdaten dieser Reise, weiß ich nicht wirklich was mich erwartet, es ist eine Fahrt in unbekannte Gefilde.

Ganz langsam, kaum merklich, setzt sich das Schiff in Bewegung, drückt sich der Rumpf parallel von der Kaimauer ab, was mein Herz höher schlagen lässt. Ausparken, sich seitlich aus der Parklücke herausschieben, der Traum vieler Autofahrer. Erst nachdem wir etwas Abstand gewonnen haben, schiebt sich die Marena gleichzeitig vorwärts und in diesem Augenblick erfasst mich ein Gefühl der Wehmut und Hoffnung zugleich.

Eine Viertelstunde später erreichen wir die Fahrrinne und passieren die Elbphilharmonie, deren Scheiben das weiche, liebliche Licht des Abendrots freundlich widerspiegeln. Verdammt, ich habe ganz vergessen mich bei meiner besten Freundin Julia zu melden, um ihr zu sagen, dass ich heil angekommen bin, denn sie macht sich große Sorgen, wenn sie nichts von mir hört.

Nach meinem Kommando „Klick“, mit ausgestrecktem Arm, zählt das Handy runter und erstellt brav ein Selfie von meinem grinsenden Gesicht, mit dem teuersten Prunkbau Hamburgs im Hintergrund.

 

 

„Hi Julia, bin gut angekommen, laufen gerade aus. Alles bestens, Grüße an den Rest deiner Familie, G&K“,

 

tippe ich rasch ein und versende die Nachricht.

 

Gruß und Kuss, du wirst dich vielleicht wundern, aber Julia liebt die Nähe von Menschen, sie legt großen Wert darauf, gedrückt, geküsst und geherzt zu werden, weshalb ich das gerne in meine Nachrichten mit einbaue.

 

 

„Toc, Toc, Toc,“

 

Nein, es hat nicht an der Tür geklopft, es ist nur der Klingelton meines Handys für eingehende Nachrichten, ich liebe ihn.

 

 

„Hi, meine Süße, genieße deine schöne Reise, komm heil wieder, Kuss zurück, auch von Tom und der Rasselbande

HDL.“

 

 

Julia ist, im Gegensatz zu mir, meist rund um die Uhr online und antwortet in der Regel sofort. Tom ist ihr Gatte und zur Rasselbande zählen: die fast zwei Jahre alte Mia und der fünfjährige Emil, Julias kleine, goldige Monster, um die ich sie beneide.

 

Es ist kurz vor Sonnenuntergang und obwohl die glühende Sonne bereits sehr tief steht, verzaubert sie das gesamte Hafenviertel mit ihrem warmen, goldgelb und rötlich schimmernden Licht. Ich stehe nun auf der Steuerbordseite und winke wildfremden Menschen zu, welche die Marena von den Landungsbrücken aus euphorisch verabschieden. Als nun das Lied „Sail Away“ aus den Deckslautsprechern erklingt, habe ich Pipi in den Augen. Es gibt an Bord zwar keine Segeln die wir setzen könnten, trotzdem geht mir die Melodie, die irgendwie nach Abschied klingt, sehr nahe.

Abschied von meinem Leben? Abschied von meinem alten Leben in ein Neues? Eine Fahrt ins Ungewisse, vielleicht ein Aufbruch zu neuen Ufern? Ich kann es dir nicht sagen, denn ich weiß es nicht. Ich bin sehr ergriffen, fühle mich vielleicht gerade so wie der Matrose einer Hansekogge vor hunderten von Jahren, der zusammen mit seinen Kameraden aufbricht, um über die Weltmeere zu segeln. Unumkehrbar, eine Fahrt in unbekanntes Terrain, fernab von dem mir so vertrauten Festland. Ich bekomme schon jetzt Gänsehaut am ganzen Körper. Kannst du es nachempfinden?

Während sich der große Stahlkoloss majestätisch an Altona vorbei durch die Fahrrinne schiebt, herrscht noch reger Schiffsverkehr auf der Elbe. Die Dämmerung ist bereits hereingebrochen und mittlerweile stehe ich ganz vorn am Bug, in schwindelerregender Höhe. Es kommt mir plötzlich alles so ruhig vor, so friedlich. Nur ein sanftes, tiefes Wummern der Maschinen ist zu hören. Sozusagen fast lautlos gleiten wir an vier nebeneinanderstehenden und in verschiedenen Farben angestrahlten riesigen Tanks vorbei, die mit ihren aufgemalten Schleifen und auch in ihrer Form aussehen wie gigantische Ostereier.

Eine Vielzahl identischer Hafenkräne steht für uns sauber und eng aneinandergereiht auf der Backbordseite Spalier, so, als ob sie uns verabschieden wollten. Sie werden von unzähligen Strahlern zum Leben erweckt und erinnern mich an riesige Dinosaurier, welche uns die Hälse entgegenrecken. Vermutlich warten sie hungrig auf das nächste Containerschiff, um alle gleichzeitig über seine Ladung herzufallen. Es ist wirklich beeindruckend, ich hätte nie gedacht welche Anmut und Ausstrahlung von einem Industriehafen ausgehen kann.

 

Der Kapitän Boris hält uns über die Bordlautsprecher auf dem Laufenden, so erfahre ich, unter anderem, dass zurzeit der Lotse das Oberkommando auf dem Schiff führt. Ich stehe hier wie angewurzelt, denn ich bin in jeder Hinsicht schwer beeindruckt.

Irgendwo auf dem Freideck der riesigen Marena steppt der Bär, läuft gerade die Sail Away Party an. Selbst von hier aus ist der Rhythmus der Musik deutlich zu vernehmen und der Bass der wohl übermächtigen Boxen am Körper zu spüren, aber es interessiert mich im Moment nicht.

Die Villen der Reichen ziehen zu meiner Rechten vorbei und kurz darauf passieren wir die Schiffsbegrüßungsanlage Willkomm-Höft. Am Sandstrand der Elbe zündet eine kleine Gruppe von Jugendlichen ein Batteriefeuerwerk, das mein Herz erfreut. Ob es als Abschied für einen Passagier gedacht ist? Vielleicht für Oma, Opa, Eltern, Freundin oder sonst jemanden? Das wäre auf jeden Fall eine schöne Geste, würde mich auch freuen mit einem Feuerwerk verabschiedet zu werden, weshalb ich es einfach für mich, also für uns beide vereinnahme und als persönliches Geschenk annehme. Sie winken uns zu, und Kate Winslet, alias Rose winkt zurück. Du darfst jetzt auch winken!

 

Der laue Fahrtwind streicht mir über die Arme, weckt ein gutes Gefühl in mir. Es ist genau das, was mich zurzeit am Leben hält. Ich bin süchtig nach Gefühlen, nach Genüssen, süchtig mich zu spüren, süchtig danach meinem derzeitigen Leben etwas Positives abzuringen. Ab und an schaffe ich es sogar, aber immer nur für einen Augenblick. Die positiven Gefühle und Gedanken halten leider nicht lange genug an, verschwinden so schnell wie Regentropfen in heißem Wüstensand und kurz darauf ist mein Höhenflug schon wieder vorbei und ich blicke in einen noch tieferen Abgrund.

Ich möchte dir nichts vormachen, ich muss ehrlich und offen zu dir sein. Die letzten Jahre habe ich oft daran gedacht meinem Leben ein Ende zu bereiten, aber ich war bisher nicht mutig genug dazu. Du darfst es ruhig wissen, denn sollte ich mich wirklich dazu entscheiden, könntest du mich ohnehin nicht aufhalten. Ich möchte nur, dass du mich verstehst. Meine Krankheit hat einen Namen, aber er gefällt mir nicht. Ich weiß nicht ob ich ihn in meinem Tagebuch nennen werde. Er war für mich immer negativ behaftet, ein Begriff für etwas, das nur schwer zu verstehen ist, ein Begriff, den ich früher mit Personen in Zusammenhang gebracht habe die faul sind und keine Lust mehr haben zu arbeiten.

Es geht um eine Krankheit die man den Betroffenen nicht unbedingt ansehen kann, eine Erkrankung, die von vielen nach außen hin gekonnt überspielt wird und vielleicht auch gerade deshalb für die meisten Mitmenschen nicht erkennbar ist. Eine Krankheit, welche einen Großteil der Betroffenen gerne mit sich selbst ausmacht, so wie ich jetzt gerade.

 

 

Neugierig gehe ich eine Treppe nach unten und schlendere über das Pooldeck, auf dem gerade so richtig die Post abgeht. Ein DJ legt auf, beziehungsweise bedient den Computer, laute Rockmusik dröhnt aus riesigen Boxentürmen und der unglaublich massive, harte Bass, mit seinen mächtigen Schallwellen, erfasst meinen Körper spürbar. Er scheint im Rhythmus der Musik mitzuwabern, ohne dass ich es beeinflussen kann, was mir sehr unangenehm ist, weil ich denke, dass nur Speck in der Lage ist zu wabern.

Auf der phänomenal intensiv leuchtenden großen LED-Wand wechseln, im Sekundentakt, viele wunderschöne Bilder von Destinationen der ganzen Welt. Das Schiff erwacht zum Leben, eine Vielzahl der Gäste tanzt voller Begeisterung auf der Bühne, ich kann ihnen ansehen, dass sie bereits jetzt in den Urlaubsmodus umgeschaltet und den Alltag hinter sich gelassen haben. Manche vergnügen sich in den Pools, andere stehen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhalten sich angeregt.

 

Sollen wir auch ein Tänzchen wagen? Komm, zier dich nicht. Ja, ich weiß, es könnte sein, dass du nicht tanzen kannst, aber ein paar Verrenkungen zur Musik kannst du sicherlich machen. Sorry, leider habe ich meinen Zustand überschätzt, es ist sehr anstrengend für mich und meinen gefüllten Magen. Mehr als zwei Runden schaffe ich heute nicht, deshalb werde ich mich jetzt besser auf meine Kabine zurückziehen. Genau in diesem Augenblick wird eine Lasershow angekündigt und weil ich mir nichts darunter vorstellen kann, zwingt mich meine Neugierde zum Bleiben.

Als eine sonderbar ernste und zugleich leichte, galaktische Musik einsetzt, ist es mir ziemlich unheimlich, läuft mir ein Schauder über den Rücken. Dunkelviolette Strahlen überspannen ganz plötzlich, wie aus dem Nichts kommend, das gesamte Deck mit einem dicht gespannten Netz aus dünnen Lichtfäden. Das Netz hebt und senkt sich, wechselt die Farben, andere Laserstrahlen schießen quer hindurch, lassen richtige Bilder entstehen.

Ein geordnetes Bündel aus Laserstrahlen beginnt sich zu drehen, der Nebel aus den Nebelkanonen lässt die Konstruktion des Lichts plötzlich wie einen großen, reellen Trichter erscheinen. Erst am Ende der Show merke ich, dass ich die ganze Zeit mit offenem Mund dagestanden habe, ich kann kaum glauben, dass es so etwas gibt, aber nun ist endgültig Schluss, auch wenn die meisten Gäste hier weiter abrocken und du lieber noch bleiben würdest.

 

 

Ich öffne die Tür zu meinem Balkon und trete hinaus. Fast wie in einem Film, zieht das Elbufer ruhig und friedlich an mir vorüber. Kurz entschlossen schnappe ich eine Decke, um es mir wenigstens für einen Augenblick in meiner Liege gemütlich zu machen und mit Wehmut einen letzten Blick auf mein Heimatland zu werfen. Es ist hell genug, um alles zu erkennen, obwohl der Schleier der Dunkelheit das Land bereits langsam einnimmt. Vielleicht noch ein oder zwei Stunden trennen uns von der Elbmündung. Auf der Nordsee werden wir Kurs auf Schottland halten, wo unser erster Zielhafen liegt. Vermutlich werde ich schon schlafen, wenn wir die offene See erreichen, denn für heute bin ich ziemlich geschafft.

Kurz darauf mache ich mich fertig für die Nacht, krame meinen Pyjama aus dem vollgepackten Trolley und schlafe bei leicht geöffneter Tür unverzüglich ein.

 

 

 

                                                                      Kapitel 3: Sanftes Meeresrauschen

 

                                                                                                      Tag 2 Seetag

 

Ich erblicke ein warmes Licht, es ist schön, strahlt Behaglichkeit aus. Ein sanfter Luftzug streift über meine Wange, das geheimnisvolle, goldgelbe Licht flackert im Wind. Die Wände erwachen zum Leben, spielen mit dem Licht der lodernden Flamme, lassen Geister tanzen und dunkle, bedrohliche Schatten umherhuschen. Meine Gedanken sind außerhalb von Raum und Zeit, meine Augen öffnen sich und ich entdecke eine Kerze auf meiner Bettdecke. Bitte nicht jetzt, ich bin sehr müde, möchte einfach nur weiterschlafen, aber die Angst davor, dass die Kerze umfallen und die Bettdecke in Brand setzen könnte beunruhigt mich, erfasst innerhalb weniger Sekunden jede Zelle meines Körpers und zwingt mich schließlich zum Handeln.

Vorsichtig schiebe ich mich unter der Bettdecke hindurch, plumpse jäh von der Bettkante und treffe unsanft auf dem Boden auf. Ich fühle keine Schmerzen, es ist die unsägliche Angst, die meine Gedanken bestimmt, die mir zuckende, schmerzhafte Blitze durch die Gehirnwindungen jagt. Die Kerze neigt sich bedrohlich, aber steht, noch, ich atme tief durch und schalte das Licht an. Der Raum ist mir fremd, erst jetzt sehe ich, dass es viele Kerzen sind, die wackelig auf meiner Bettdecke stehen, aber sie brennen wenigstens nicht. Es ist alles gut, du schaffst das, versuche ich mich zu beruhigen.

Ich entschließe mich die Kerze vorsichtig auszupusten, bloß keinen Funken auf die Decke blasen, denke ich dabei, und bin erleichtert, als sie erlischt und das glimmende Rot langsam abnimmt, bis es endgültig aus der Dochtspitze weicht.

        Ganz plötzlich geht das Licht aus, eine Finsternis, schwärzer als Schwarz, legt sich über mich wie ein Krake, dessen Arme mich umschlingen und jeden Quadratzentimeter meines Körpers berühren. Mein Herz pocht wild, versetzt mir schmerzhafte, pulsierende Stiche und gleichzeitig fühle ich mit jedem Stich das Blut durch meine Halsschlagader rauschen, wie ein schnell anschwellender, tosender Gebirgsbach, der sich mit brachialer Gewalt durch sein viel zu enges Bett zwängen muss. Während ich mich an der Wand entlangtaste und nach einem Lichtschalter suche, ahne ich schon, dass ich keinen finden werde, sie sind, wie von Zauberhand, spurlos verschwunden. Ich gerate in Panik, haste wild hin und her, harte Kanten und Ecken rammen sich in mein weiches Fleisch, aber ich spüre keine Schmerzen.

Wie von Geisterhand angezündet, lodern plötzlich zwei andere, ebenfalls bedrohlich schief stehende Kerzen auf. Ihr Licht ist nicht freundlich, es ist ein böses, furchterregendes Licht, das sie ausstrahlen, ein Licht des Todes, das mir schlagartig Gänsehaut beschert. Einen Augenblick lang bin ich gelähmt, zu einem harten, unbeweglichen Eisblock erstarrt, kurz darauf schießen die heißen Blitze der Angst wieder durch mein Gehirn.

Ich puste die beiden unfreundlich lodernden Kerzen rasch aus, aber der Schecken nimmt kein Ende, denn nun entzünden sich vier andere Kerzen. Es ist der reine Horror, ich puste aus Leibeskräften, jedoch ohne Erfolg, mit vier ausgeblasenen Kerzen entzünden sich acht Neue, die Zahl der brennenden Kerzen verdoppelt sich jedes Mal gnadenlos, weshalb ich nach wenigen Sekunden vor einem bedrohlichen Lichtermeer stehe.

Ich habe Angst, eine unfassbar große Angst, dass eine der Kerzen umfällt und meine Decke in Brand setzt. Als alle Kerzen wie auf Kommando gleichzeitig umfallen und die ersten Flammen züngelnd aus der Bettdecke emporlodern, bleibt mein Herz kurz stehen.

         Jetzt hilft nur die Flucht, ich muss den Raum so schnell wie möglich verlassen, aber es gibt weder Tür noch Fenster. Es ist zu spät, das Inferno nimmt seinen Lauf, die Hitze wird unerträglich, das Feuer raubt mir schlagartig die Luft zum Atmen. Meine Haare brennen lichterloh, meine Fingernägel krallen sich in die Wände, ich bin noch bei Verstand und mir ist bewusst, dass dies meine letzten Sekunden sind, es gibt kein Entkommen. Das Meer der Flammen erfasst mich, verschlingt meinen Pyjama innerhalb eines Augenblicks, ich bin nackt, meine Haut brennt und plötzlich schwebe ich als schwarze, verkohlte, haarlose Leiche in Zeit und Raum.

 

Erst an dieser Stelle bin ich mit rasendem Puls aufgeschreckt und erst nach weiteren Schrecksekunden habe ich realisiert, dass ich erneut einem fürchterlichen Traum zum Opfer gefallen bin. Ich suche zitternd nach dem Lichtschalter und kurz darauf brennt sich das gleißende Licht der Strahler schmerzhaft in meine Pupillen. Voller Angst schaue ich, ob die Kabinentür noch da ist, stürze auf den Balkon hinaus und lösche mein glühendes Inneres mit kühler Seeluft. Ich zittere, aber friere nicht, bleibe so lange draußen, bis sich mein Puls wieder beruhigt hat und entschließe mich, diesen Traum, gleich jetzt, mitten in der Nacht, für dich niederzuschreiben, damit ich ihn nicht vergesse, denn auch solche schlimmen Träume gehören zu meinem Leben.

Mit diesem Wissen kannst du vielleicht nachfühlen was mein Unterbewusstsein nachts mit mir anstellt und vielleicht helfen auch mir diese Aufzeichnungen irgendwann einmal, um einen Zusammenhang zwischen den einzelnen, sehr unterschiedlichen Träumen herzustellen, die meine Nächte so oft zur Qual werden lassen.

 

Es grenzt an ein Wunder, dass ich nochmals eingeschlafen bin und den Rest der Nacht von Träumen verschont wurde. Als ich mich entschließe aufzustehen, ist es erst Fünf. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, für mich ist das allerdings in Ordnung, denn meistens wache ich bereits wesentlich früher auf. In der Regel muss ich mich sehr lange im Bett herumquälen, weil ich nicht mehr einschlafen kann und letzten Endes bin ich froh, wenn die Uhr endlich auf Fünf steht, damit ich aufstehen darf und die Quälerei ein Ende hat. Für einen normalen Menschen ist das nicht nachvollziehbar, der wäre im Gegensatz zu mir froh, wenn ihm bis zum Aufstehen noch möglichst viel Zeit zum Schlafen zur Verfügung stünde.

Um die Uhrzeit mache ich mir schon lange keine Gedanken mehr, für mich zählt nur, ob ich mich in der vergangenen Nacht ein bisschen regenerieren konnte, oder nicht. Obwohl mir kein durchgängiger Schlaf beschert war, bin ich heute von meinem Tatendrang echt begeistert. Schon seit Monaten bin ich nicht mehr so ausgeruht und energiegeladen aufgewacht.

Als ich den Vorhang öffne, blicke ich auf ein fast spiegelglattes Meer, dessen seichte Wellen das orange-gelbe Licht der aufgehenden Sonne zum Leben erwecken. Für diesen nordwestlichen Kurs und die jetzige Tageszeit ist meine Kabine genau auf der richtigen Seite. Ich streife mir schnell den Bademantel über, trotzdem bekomme ich Gänsehaut. Nicht von der frischen Meeresbrise, sondern von diesem beeindruckenden Naturschauspiel.

Es ist das sanfte Rauschen des vom Rumpf verdrängten Wassers, das so beruhigend auf mich einwirkt und es ist die unendliche Weite des azurblauen Meeres, die mich zutiefst beeindruckt, mich vor Ehrfurcht erstarren lässt, ja, mir sogar eine Träne abringt. Der salzige Geschmack auf meiner Zunge und die klare, frische Luft scheinen meine Lebensgeister geweckt zu haben.

 

Danke, Tag, dass du mich so freundlich empfängst, denke ich, während ich ehrfürchtig am Balkongeländer verharre und mich vor der Natur verneige. Die sanfte Wärme der aufgehenden Sonne kann ich bereits auf meinen Händen und im Gesicht spüren, aber auf Dauer ist es noch zu kalt hier draußen. Nachdem ich einen letzten Blick auf den goldgelben, breiten Strahl werfe, den die Sonne auf die dunkle Meeresoberfläche projiziert, überlege ich, was ich mit meinen neu gewonnenen Kräften anfangen könnte.

 

 

Als ich im Bereich des Hallenbades unter der Dusche stehe, fühle ich mich wie neu geboren. Das Wasser im Becken ist angenehm warm, so traue ich mich durch den Lamellenvorhang in den Außenpool zu schwimmen. Mein Herz geht auf, ich kann es dir nicht wirklich beschreiben. Das dampfende Wasser, die aufgehende, lebendige Sonne, die sich vielfach auf den Glasflächen des Schiffs widerspiegelt und dieser erneute Blick auf die unendliche Weite des tiefblauen Meeres haben es mir angetan. Es tut mir leid, ich wiederhole mich, aber möglicherweise hast du das selbst schon erlebt und kannst meine Begeisterung nachvollziehen.

 

Ganz alleine sind wir hier draußen allerdings nicht. Auf der Backbordseite begleitet uns ein riesiges, rotes Containerschiff, ein Gigant der Meere, der sich zurzeit wohl auf dem gleichen Kurs befindet. Die einzelnen Container sind in mehreren Schichten hoch aufgetürmt und aneinandergereiht wie bunte Legosteine.

Ach ja, Backbord kannst du vielleicht nicht einordnen, es ist die linke Seite der Marena, und Steuerbord ist die Rechte, die Seite, auf der sich früher der Ruderstand oder das Steuerrad befand, so wie heute noch bei den meisten Sportbooten. Das „r“ von Steuerbord kannst du als Eselsbrücke für rechts verwenden.

 

Ich bin am Ende des Pools angelangt und lasse mich in den kreisförmigen Strömungskanal hineinziehen und zusammen mit anderen Frühaufstehern hindurchspülen.

Meine erste Kreuzfahrt, es fühlt sich gerade richtig gut an. Warum bin ich nicht schon früher auf die Idee gekommen? Erstmals seit langer Zeit, spüre ich mich wieder, fühle ich mich ausgeruht und lebendig. Es macht mir Mut und gibt mir einen Funken Hoffnung, mich am Ende der Reise vielleicht doch anders entscheiden zu können und den Kampf um ein erträgliches Leben erneut aufzunehmen. In meiner Euphorie vergesse ich die Zeit, ich könnte mich ewig treiben lassen, im warmen, lebhaften Salzwasser, das mich gut trägt und mir eine gewisse Leichtigkeit vermittelt. Es ist sehr angenehm hier, dieses Bad ist Balsam für Körper und Geist, entspannt mich und lässt mich kurzzeitig alle Sorgen vergessen.

Gegen acht Uhr bin ich mit Kofferauspacken fertig. Die Ankleide ist für mich mehr als ausreichend dimensioniert und nachdem du ja nichts reingelegt hast, konnte ich mich großzügig ausbreiten. Alles fein säuberlich einsortiert, denn ohne Ordnung fühle ich mich nicht wohl. Das ist auch eine meiner Baustellen die an meiner Krankheit nicht ganz unbeteiligt ist. Der Ordnungssinn ist tief in mir verankert, den habe ich von meinem Vater übernommen, aber mein Problem ist, dass es in vielen Lebensbereichen keine dauerhafte Ordnung gibt, vieles immer wieder neu angepackt werden muss und manche Dinge, welche bereits erledigt sind, ständig wiederkehren.

Der Garten ist ein sehr gutes Beispiel, ich jäte das Unkraut und bringe alles auf Vordermann, das erfreut mein Herz, aber wenige Tage später ist meine geliebte Ordnung wieder zerstört, das Unkraut wuchert erneut aus allen Ritzen und genau das ist es, was mich ständig beschäftigt und mir keine Ruhe lässt.

 

 

Ich muss an Julia denken, die immer auf dem Laufenden gehalten werden möchte. Sie ist Mutter aus Leidenschaft, es ist ihre Passion und Erfüllung, sich um ihre Familie und ihr gesamtes Umfeld zu kümmern, wozu ich auch gehöre. Es ist einfach ihre Art, sich um alle Menschen um sie herum zu kümmern und sie zu bemuttern. Julia ist die Managerin eines kleinen Familienunternehmens und sie macht ihren Job wirklich sehr gut und gerne. Sie scheint unendliche Energiereserven zu haben, trotzdem mache ich mir Sorgen um meine beste, allerdings auch einzige Freundin. Ich hoffe, dass sie sich, auf Dauer gesehen, nicht verausgabt und an einem solchen Punkt landet, an dem ich mich gerade befinde.

Damit ich Julia keine Sorgen bereite, habe ich mir an Bord ein Datenpaket gekauft, das mir auch auf See erlaubt, WhatsApps zu schreiben. Ich halte mein Handy über die Reling, richte es direkt nach unten, in die vom Schiffsrumpf aufgewühlte See und starte die Videoaufnahme.

 

 

„Guten Morgen meine Liebe,

es geht mir gut, ich genieße es gerade sehr. Falls eines deiner Kinder nicht einschlafen kann oder du etwas Entspannung benötigst, dann starte einfach dieses Video. Das sanfte Rauschen des Meeres wirkt unglaublich beruhigend. Die salzige Brise konnte ich dir leider nicht mitschicken, schade.

Salzigen G&K für dich und die kleinen Monster und ganz besonders, für deinen lieben Tom“

 

 

Ab und zu muss ich etwas sticheln, kommt meine leicht sadistische Ader zum Vorschein. Tom scheint mich mehr zu mögen, als Julia lieb ist, weshalb sie auf den extra Kuss für Tom ganz sicher reagieren wird.

 

Wort für Wort geht mir das Schreiben flüssiger von der Hand und schon jetzt bin ich überzeugt, dass meine Entscheidung gegen den Computer eine gute Entscheidung war. Auf Papier zu schreiben fühlt sich einfach persönlicher und authentischer an. Falls meine Aufzeichnungen je an die Öffentlichkeit gelangen, also wenn du sie gerade in Händen hältst, dann werden sie wohl in Druckschrift geschrieben sein. Sei froh, denn mit meiner Schrift würdest du dich nur plagen müssen. Schnell kann ich, aber mit Schönschrift kann ich leider nicht dienen.

 

 

„Toc, Toc, Toc,“

 

„Auch guten Morgen. Dein Video macht mich ganz schwindelig, aber der Ton ist sehr beruhigend. Werde Tom deinen Kuss heute Abend persönlich auf die Backe schmatzen und ihm gleich ein paar hinter die Löffel geben, dass er nicht auf falsche Gedanken kommt!

JJJ

Übrigens: Mia geht heute erstmals Lingdangdang Hüpfer!

G&K Julia“

 

 

„Lingdangdang Hüpfer???“

 

 

„Toc, Toc, Toc,“

 

„Das Wort Kindergarten kennt sie von Emil, da sie es aber nicht aussprechen kann, verwendet sie ein wohlklingendes Phantasiewort, und Hüpfer ist die Kitagruppe in die sie heute gehen darf!“

 

 

Ich wundere mich immer wieder was dieses knapp zweijährige Wesen schon von sich gibt. Aber auch Emil fing sehr früh an zu sprechen und es gibt einen Satz von ihm, den ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde. Am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezembers gab ich meine Weihnachtsgeschenke für Julias Familie ab, da war Emil noch keine zwei Jahre alt und gerade nicht besonders gut gelaunt. Julias Androhung, dass das Christkind nur für brave Kinder kommt, beantwortete er mit dem Satz:

 

„Mage nit de Christkind kommt“, nach dem Motto: Erpressungsversuch gescheitert.

 

Diesen Satz, bestehend aus fünf Worten, aus dem Mund eines so kleinen Pimpfs zu hören, der allerdings nicht wirklich wusste was das Christkind bringt, hat mich in Erstaunen versetzt und ich kann noch heute darüber schmunzeln.

 

 

Vielleicht sollte ich dir nun endlich die Reiseroute vorstellen, damit du weißt, was dich die nächsten Tage erwartet. Das erste Ziel ist Invergordon, es liegt in Schottland, alle restlichen Destinationen befinden sich an der Küste Norwegens. Hier ist die komplette Übersicht:

 

Tag 1               Samstag           Abreise Hamburg

 

Tag 2               Sonntag           Seetag

 

Tag 3               Montag           Invergordon, Schottland

 

Tag 4               Dienstag          Seetag

 

Tag 5               Mittwoch         Geiranger

 

Tag 6               Donnerstag      Seetag

 

Tag 7               Freitag             Seetag und Arctic Circle

 

Tag 8               Samstag           Tromsø

 

Tag 9               Sonntag           Honningsvåg / Nordkap

 

Tag 10             Montag            Seetag

 

Tag 11             Dienstag          Seetag

 

Tag 12             Mittwoch         Bergen

 

Tag 13             Donnerstag      Stavanger / Lysefjord / Preikestolen

 

Tag 14             Freitag             Seetag

 

Tag 15             Samstag           Ankunft Hamburg

 

 

                                                                                       Tag 3 Invergordon / Schottland

 

Als ich auf die Uhr sehe bleiben mir gerade mal dreißig Minuten, um zum vereinbarten Treffpunkt zu gelangen. Ich bin vollkommen gerädert, habe eine Nacht ohne Schlaf hinter mir, in der ich meine Sorgen und Probleme in einer Endlosschleife gewälzt habe. Erst am frühen Morgen bin ich weggedämmert und nach dem Klingeln meines Weckers erneut eingeschlafen. Würde den Ausflug jetzt gerne absagen, habe aber keine Möglichkeit Kontakt mit den drei Pärchen aufzunehmen. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als die Beine unter die Arme zu nehmen und das Schiff mit wehenden Fahnen zu verlassen.

Katzenwäsche, schnell was überziehen, Apfel, Banane und Birne im Restaurant schnappen, und los gehts. Am Treffpunkt angekommen, mit Schweiß auf der Stirn und galoppierendem Puls, sehe ich die Erleichterung in die Gesichter der Wartenden geschrieben und entschuldige mich stoßweise, so wie es mein Atemrhythmus gerade zulässt, artig für meine fünfminütige Verspätung.

Just im gleichen Moment fährt ein Großraumbus vor und es tritt uns ein waschechter Schotte zackig entgegen. Ein wirklicher Hüne, rötliche Haare, Hände fast so groß wie Teller, begrüßt er uns in traditioneller Kleidung, mit grün-rot kariertem Kilt, den Gürtel mit Felltasche und Fellflasche bestückt, vermutlich mit schottischem Whisky gefüllt. Der Rock weht im Wind und ich überlege gerade, ob sich die Frage was Schotten darunter tragen, jetzt gleich beantworten wird, aber soweit kommt es nicht und darunter fassen ist ganz bestimmt nicht die beste Idee. Naja, sind selbst schuld, wenn sie sich bei zwölf Grad die Eier abfrieren, muss ich kein Mitleid haben. Der Gedanke hängt mir noch etwas nach, wer weiß, vielleicht würde es ihm sogar gefallen? Du weißt schon was ich meine.

 

An der Küste entlang geht es vorbei an mehreren künstlerisch gestalteten Häusern mit bunt bemalten Giebelseiten. Eine Fassade vermittelt die Szenerie eines Brandes, Flammen haben sich bereits durch das obere Stockwerk hindurch gefressen, sich den Weg nach draußen erkämpft und züngeln nun am Giebel empor. Emsige Feuerwehrleute agieren im Dampf des Löschwassers, um zu retten was möglich ist.

Auf der weiteren Fahrt registriere ich lediglich eine alte, verkommene, im typischen Rot angestrichene Telefonzelle, mit Krönchen über der Tür, deren Lack aus unzähligen Anstrichen sich bereits lagenweise abschält und ein paar hübsche Cottages mit Gärten, die durch weiß aufblühende Bäume und bunte Farbklekse aus unzähligen Tulpen bereichert werden.

Erst als wir auf dem Parkplatz von Dunrobin Castle zum Stehen kommen, erwache ich aus meinem Dämmerschlaf. Ich sehe die besorgten Blicke der Gruppe und erkläre unaufgefordert, dass ich schlecht geschlafen habe, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, dass mich der Ausflug langweilt. Wir vereinbaren Uhrzeit und Treffpunkt zur Weiterfahrt und danach geht jeder seiner eigenen Wege.

 

So, wir sind wieder unter uns. Zuerst brauche ich einen starken Kaffee, den ich zum Glück im Inneren des Schlosses erstehen kann. Während immer noch die Eier in meinen Gedanken herumkullern, balanciere ich grinsend, aber sorgsam, in Richtung Ausgang, schlabbere mir trotzdem ein paar heiße Tropfen auf die Füße und fluche ordentlich vor mich hin. Jetzt bin ich allerdings wach und während ich den Kaffee draußen vorsichtig schlürfe und den köstlichen Duft aufsauge, der mich mit Leben erfüllen soll, orientiere ich mich mit einem Rundumblick.

Ist ein echt großer Kasten dieses Dunrobin Castle, wirklich beeindruckend und noch gut in Schuss. Sein Haupt zieren eine Vielzahl von Türmchen und Gauben in sehr unterschiedlichen Formen, die Erbauer konnten sich hier wohl so richtig austoben. Das imposante Schloss, mit seinen annähernd zweihundert Räumen, thront hoch oben über einer prachtvollen, weitläufigen Gartenanlage, die sich bis zur Küste hin erstreckt.

Endlich geht es mir wieder etwas besser, bin ich aufgewacht und beschließe mutig der Falknershow beizuwohnen, die gerade im hinteren, linken Teil des Gartens beginnt. Kaum sitze ich, erschrecke ich fast zu Tode, als gerade ein Falke, Geier oder Adler, ich kenne mich mit Vögeln (jetzt bitte nicht falsch verstehen J) nicht so gut aus, ganz knapp über meinem Kopf vorüberschießt. Mein Herz stolpert gerade etwas, er war so nah, dass ich seine Flügelschläge hören und fühlen konnte, mit denen er meine Frisur leicht durcheinander geweht hat, was ich dem Tier allerdings verzeihe, weil es nur seine Arbeit verrichtet.

Am Ende der Vorführung bleibt mir genügend Zeit, um den wunderschönen, sehr gepflegten Schlosspark gemächlich zu durchschreiten. Während ich mich vom satten Grün der Pflanzen und den intensiven Farben der Blumen verzaubern lasse, schnuppere ich an einzelnen Blüten, um meine Sinne zu beleben.

Auch die Räume von Dunrobin Castle sollen sehenswert sein, aber die Zeit ist zu knapp. Ich genieße in der letzten halben Stunde lieber den Anblick des schönen Gartens, auf einer überdimensional großen Bank sitzend, die ich auf der Anhöhe entdeckt habe. Sie ist so breit, dass wir uns beide Fuß an Fuß oder Kopf an Kopf langlegen könnten, alleine komme ich mir allerdings etwas verloren vor.

 

 

 

                                                                            Kapitel 4: Moonlight Spa

 

Du wirst es schon ahnen, sorry, ich kann gerade nicht anders, erneut häufe ich meinen Teller randvoll, weil die Gier mal wieder den Verstand überflügelt. Während ich mein Essen eher hinunterschlinge als genieße, studiere ich das Abendprogramm in der MARENA HEUTE.

Es fällt mir verdammt schwer eine Entscheidung zu treffen, bis ich den Hinweis auf „Moonlight Spa“ entdecke. Es wird von neunzehn bis vierundzwanzig Uhr angeboten, was ich bei meiner aktuellen Fressgeschwindigkeit locker pünktlich schaffen würde, und ich kombiniere, dass sich das Auslaufen vom Wellnessbereich aus, der sich in bevorzugter Lage über den gesamten Bugbereich hinweg erstreckt, sicher gut genießen ließe.

Nachdem du stumm bleibst, also keinen Widerspruch eingelegt hast, gehe ich auf meine Kabine, um die Saunatasche zu packen und in den Bademantel zu schlüpfen. Im Treppenhaus begegne ich fein herausgeputzten Passagieren, die sich erst jetzt zum Essen begeben. Etwas komisch komme ich mir im Bademantel schon vor, aber so ist es üblich und in Luft auflösen kann ich mich schließlich auch nicht.

Ich bin sehr gespannt wie viele der weiteren über zweitausend Gäste die gleiche Idee hatten und den Wellnessbereich bereits bevölkern. Am Eingang werde ich vom Personal mit einem strahlenden Lächeln begrüßt, was mich etwas nachdenklich stimmt. Sind sie hier alle so gut drauf? Oder ist es Pflicht für sie, jeden Gast mit einem einnehmenden Lächeln zu begrüßen? Vielleicht eine Mischung aus beidem, jedenfalls wirkt es nicht künstlich, sieht wirklich so aus, als ob die Freude aus ihrem tiefsten Inneren käme.

         Im ersten Moment denke ich, dass ich auf der falschen Veranstaltung bin. Es ist weit und breit kein anderer Passagier zu entdecken. Wo sind die alle? Beim Essen? Vielleicht füllt es sich erst später, überlege ich, und stehe vor der für mich fast unlösbaren Aufgabe, welche der vielleicht über einhundert Liegen ich für mich beanspruchen könnte. Erst nach dem zweiten Umzug bin ich mit meiner Wahl zufrieden und fühle mich angekommen. Ich hoffe, du kannst dich etwas schneller entscheiden als ich, manchmal nervt es mich sogar selbst.

Es ist neunzehn Uhr dreißig, noch Zeit genug, um meinen Körper vor dem ersten Aufguss um zwanzig Uhr, in dem von hunderten LEDs geheimnisvoll smaragdgrün strahlenden Whirlpool verwöhnen zu lassen, dessen spiegelglatte Oberfläche ich gleich gewaltig in Wallung bringen werde. Ich streife meinen Bademantel ab und während ich langsam in das wohlig warme Wasser hineinsteige, fühle ich die Grenze zwischen Wasser und Luft ganz deutlich kitzelnd an meinen Beinen nach oben klettern, über den Po hinweg, bis sie kribbelnd über meinen Busen wandert, um meinen Hals zu umschnüren wie eine Perlenkette. Ich komme mir etwas verloren vor, in dem mit Sicherheit über vier Meter messenden runden Whirlpool, der sich ganz vorn, in Richtung des Bugs, direkt an die Verglasung anschließt und einen phantastischen Ausblick in Fahrtrichtung bietet.

Das nun kräftig tosende, trotzdem angenehm weiche, perlige Wasser, das jede einzelne Hautzelle meines Körpers aktiviert, lässt mich alles um mich herum vergessen und mich meinen Gefühlen gänzlich hingeben. Ich schaffe es sogar einen Moment lang komplett abzuschalten und gedankenfrei im Nichts zu versinken. Ich könnte dich gerade umarmen, egal wer du bist.

 

Es ist reines Glück, dass ich den ersten Aufguss nicht verpasse. Langsam, bloß nicht auf die Nase legen mit den nassen Badesandalen, denke ich, während ich in Richtung der Aufguss-Sauna latsche. Es ist weit und breit niemand zu sehen, trotzdem entschließe ich mich schon einzutreten und auf mittlerer Höhe Platz zu nehmen. Der ungehinderte Blick, der nach außen hin voll verglasten Sauna, direkt auf die Häuser Invergordons, weckt die Überlegung in mir, ob ich mich nicht doch verhüllen sollte, aber eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass die Scheiben von außen verspiegelt sind.

Als die Saunatür aufspringt und ein junger, dynamischer und gestählter Aufgussmeister mit einem forschen Gruß hereintritt, erschrecke ich fast. Im Gegensatz zu mir scheint er sich nicht zu wundern, dass ich der einzige Gast in der Sauna bin. Er stellt sich kurz als Andre aus dem Sportbereich vor und erklärt mir die Gepflogenheiten, die ich als erprobte Saunagängerin allerdings kenne. Als Aufguss bringt er wilden Eukalyptus mit, dessen Duft ich bereits jetzt intensiv riechen kann. Während Andre die ersten Kellen über den Ofen gießt, bekomme ich den Hinweis, dass das im Aufgusswasser enthaltene Mittel Minzöl und Menthol enthält, welche die Atmung und somit die Sauerstoffversorgung fördern.

Der aufsteigende Wasserdampf erfasst meinen Körper wie die Hitzewelle einer Explosion und ich beschließe, mich vorsichtshalber eine Stufe tiefer niederzulassen. Ich sitze aufrecht, mit geradem Rücken, schließe meine Augen und inhaliere mehrmals tief durch die Nase ein und den Mund aus, damit sich die Wirkung des Minzöls und Menthols voll entfalten kann.

Während Andre mit seinen muskulösen Armen und einem kreisenden Handtuch heiße Luft von oben auf mich herunterwedelt, spüre ich die Vibrationen der Propeller, wir legen also pünktlich ab.

 

Es ist eine Flut von Gefühlen die sich gerade in meinem Körper ausbreitet. Abschied von Schottland, der intensive Duft nach Eukalyptus, der herrliche Ausblick, die wohltuende Hitze und die übliche Auslaufmelodie „Sail Away“, die just in diesem Moment aus den Saunalautsprechern erklingt und Wehmut in mir auslöst. Trotz der Hitzewelle des zweiten Aufgusses habe ich einen Wimpernschlag lang Gänsehaut am ganzen Körper.

Vor der Sauna erhalte ich einen kleinen Becher mit Peeling aus Salz und Öl, mit dem ich alle abgestorbenen Schüppchen von meiner Haut reiben kann. Trotz aller Verrenkungen bleibt der obere Teil meines Rückens unberührt, was mich unweigerlich an Frank erinnert. Wie gerne hätte ich die Reise gemeinsam mit ihm angetreten, wie schön wäre es, wenn er mir in diesem wundervollen Augenblick den Rücken peelen und ich seine Hände auf meiner Haut spüren könnte. Ja, ich liebe ihn noch immer, obwohl er inzwischen mit seiner neuen Freundin zusammenlebt.

Ich muss mich ablenken, damit ich nicht gleich losheule. Im geschmackvoll mit zartgrünen Baldachinen überspannten Ruheraum finde ich eine Obstplatte mit Melone, Ananas, Orange und weiteren leckeren reifen Früchten vor, derer ich mich reichlich bediene, Süßes geht schließlich immer.

Aus dem, mit unzähligen Wasserperlen übersäten, metallenen Sektkühler entnehme ich die Flasche Champagner und nachdem ich ihren Korken mit einem lauteren Knall, als von mir vorgesehen, unbeabsichtigt durch den verwaisten Wellnessbereich geschossen habe, schlendere ich mit meinem Tablett vorsichtig zu meiner Liege, die in der weit verzweigten Räumlichkeit nicht so einfach zu finden ist.

 

Prost, auf unsere gemeinsame Reise, dein Glas muss ich wohl für dich mittrinken, ist aber kein großes Opfer, danke, dass du es mir überlässt! Inzwischen findet sich eine Handvoll weiterer Gäste ein, worüber ich sehr froh bin. Bereits nach wenigen Minuten drängt es mich allerdings nach draußen, auf den Balkon, der sich um den ganzen Bug herumzieht, um die grandiose Aussicht zu genießen. Trotz mäßiger fünfzehn Grad, lässt es sich im Bademantel gut aushalten.

Wir schieben uns an einer mächtigen, rostigen, vermutlich ausrangierten, aber trotzdem beleuchteten und irgendwie cool aussehenden Bohrinsel vorbei. Ihr pyramidenförmiger Bohrturm ragt hoch in den Himmel hinauf und es scheint gerade so, als ob seine Spitze in die sehr tief liegende Wolkendecke hineinsticht.

Zurzeit fahren wir entlang saftiger, in sattem Grasgrün leuchtender Wiesen, deren kräftige Farbe in den schattigen Bereichen zu einem schimmernden Dunkelgrün verblasst. Ab und zu liegen sonnengelb strahlende Flächen wie Farbklekse dazwischen, um das übermächtige Grün entlang des Küstenstreifens zu durchbrechen.

Plötzlich strahlt die untergehende Sonne zwischen zwei seichten Hügeln hindurch, erfüllt die dunkelgrauen Wolken schlagartig mit Leben und lässt sie in einem königlichen Blau erscheinen. Unter der Wolkendecke füllt sich das Tal mit bizarr zerrissenen, in allen Farbtönen zwischen feuerrot, goldgelb und graublau aufleuchtenden Wolkenfetzen. Ein irres Schauspiel der Natur, welches mein Herz berührt, ein Schauspiel, das ich versuche mit mehreren Handyfotos für Julia festzuhalten, aber mir ist klar, dass ich meine momentanen Emotionen nicht in Bildern festhalten kann.

 

Die Fenster der wenigen verstreuten, einsam am Küstenstreifen liegenden Häuser strahlen ein warmes, gelbliches Licht aus. Sie ziehen gemächlich, wie in einem Kinofilm, an mir vorüber und ich muss darüber nachdenken, was sich dort wohl gerade so alles abspielen könnte. Liebe, Sex, Zärtlichkeit, glückliches Familienleben, der ganz normale Alltag, oder Streit, Gewalt, Mord und Totschlag? Alles ist möglich, die Menschen sind unvollkommen, viele auch gewaltbereit, herrschsüchtig und egoistisch. Wie interessant wäre es jetzt, einen Blick in jedes einzelne Haus hineinwerfen zu können.

All das was ich gerade sehe und spüre werde ich nie vergessen, es ist ein Moment, den man mit keiner Kamera der Welt wirklich festhalten kann. Die einzelnen Täler sorgen dafür, dass fortwährend neue, bemerkenswerte Kreationen des Lichts geboten werden, bis die sanften Hügel so weit abflachen, dass sich der Sonnenuntergang wie auf einer Bühne in voller Breite entfalten kann.

 

Mit Gänsehaut am ganzen Körper, teils von der frischen Luft, teils aber auch von meinen Gefühlen verursacht, beobachte ich gerade ein leuchtendes Wolkenarrangement, das aussieht wie das mandelförmige Auge der Sonne, erschaffen aus gleißendem, hellgelbem Licht und umrahmt von einem im Halbkreis angeordneten Wimpernkranz aus weißblauen, dicken Wolkenstrichen mit grau gefärbten Enden.

Noch eine gefühlte Ewigkeit stehe ich, gemeinsam mit wenigen anderen Gästen, an der Reling und staune über die Vielfalt der dargebotenen Bilder, bis sich die Sonne mit einem Gemisch aus feuerrot glühenden und graublau, geheimnisvoll leuchtenden Wolken verabschiedet und nur ein schwaches, rötliches Glimmen hinterlässt. Erst jetzt spüre ich, wie durchgefroren ich bin und freue mich auf den zweiten Aufguss.

Gegen vierundzwanzig Uhr kehre ich auf meine Kabine zurück und lasse den Tag vor dem Einschlafen nochmals Revue passieren. Es war ein schöner, ereignisreicher Tag, findest du nicht auch? Ich bin vollkommen entspannt und freue mich, dass ich sozusagen keine Sekunde des Tages für meine Probleme vergeudet habe. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich das so sagen kann.

Meine Energie reicht noch aus, um Julia eine WhatsApp mit einigen Bildern von diesem grandiosen Sonnenuntergang zu senden.

 

 

„Liebe Julia, dieser Abend war ein Traum. Die Bilder können es leider nur annähernd wiedergeben. Es geht mir gerade sehr gut, mach dir keine Sorgen.

DD, Elena“

 

 

„Toc, Toc, Toc,“

 

 

Das kann jetzt nicht wahr sein, Julia schläft um diese Zeit normaler Weise tief und fest.

 

 

„Ich schlafe schon, melde mich morgen.“

 

 

Es tut mir leid, denke ich. Es ist typisch Julia, sie schaltet ihr Handy nicht aus, um für mich erreichbar zu sein, rund um die Uhr, sozusagen als Notfall-Seelsorgerin. Sie macht sich große Sorgen, weil ich außerhalb ihrer Reichweite bin und sie mich im Moment nicht in der Art und Weise bemuttern kann, wie sie es gewohnt ist.

Durch den schmalen Türspalt strömt eine schwache Brise klarer Meeresluft. Ich ziehe meine Decke bis unters Kinn und während das sanfte, beruhigende Rauschen des Meeres meinen Ohren schmeichelt, hoffe ich auf eine angenehme Nacht. Also dann, bis morgen, Gute Nacht.

 

 

                                                                        Kapitel 5: Im Hier und Jetzt

 

                                                                                                  Tag 4 Seetag

 

Ich realisiere, dass ich wach bin, es ist kein Traum, meine Schmerzen sind echt. Ein Blick auf den Wecker bestätigt meine Vermutung, ja, es ist noch viel zu früh. Die ersten Sonnenstrahlen begrüßen den jungen Tag zwar bereits freudig und lassen das Licht versöhnlich durch den Spalt meiner Gardinen spitzen, aber es ist erst kurz nach Vier. Entschuldige bitte, dass ich schon wach bin, ich hoffe du konntest wenigstens etwas schlafen. Es ist nichts Neues für mich, ich kämpfe bereits seit Jahren mit diesem Problem.

Ein schmerzhafter Druck im unteren Bereich meiner Rippenbögen und in der Magengegend. Nein, es ist nicht das was du vielleicht denkst. Meine Muskulatur verkrampft sich, auch die meines Magens, aber nicht weil ich etwas Schlechtes gegessen hätte, es sind andere Gründe. Es hat wohl mit meiner Psyche zu tun, mit all dem, was ich meinem Körper zugemutet habe und was mir vom Schicksal aufgebürdet wurde, bis es schließlich zu meinem persönlichen Super-GAU kam. Ich mag mich im Moment nicht daran erinnern, ich werde dir später mehr davon erzählen.

Es ist kein schlimmer Schmerz, aber ein Schmerz, der mich am Schlafen hindert, ein hartnäckiger Schmerz, der sich nur schwer vertreiben lässt. Ob ich den Rest der Nacht im Bett verbringe oder aufstehe ist völlig egal. Aus Erfahrung heraus weiß ich, dass ich keinen Schlaf mehr finden werde. Trotzdem bleibe ich vorerst liegen, um mit Entspannungsübungen dagegen anzukämpfen.

Was soll ich um diese Uhrzeit machen? Wie so oft fange ich an über meine persönliche Situation nachzudenken, ohne dass ich es eigentlich möchte. Es ist ein düsteres Szenario welches meine Gedanken einnimmt, in mir kreist und mein ganzes Leben in ein negatives Licht rückt. Nacht für Nacht raubt es mir ein weiteres Stück meiner verbliebenen Lebensfreude. Leicht lösbare Kleinigkeiten, vor deren Bewältigung ich mir tagsüber keinerlei Sorgen mache, werden in den Nächten zu großen, furchterregenden Dämonen.

          Mittlerweile weiß ich, dass es Ängste sind, die wohl tief in meinem Unterbewusstsein verankert sind, die mir teils völlig irreal erscheinen, aber sie sind da, wie die Geister eines alten Schlosses, die man nicht in der Lage ist zu vertreiben. Eine Windböe pfeift gerade gespenstisch durch den Türspalt, passend zu meinen Gedanken, vermittelt mir den Eindruck, als ob es draußen heftig stürmen würde.

          Meist schaffe ich es erst nach einer längeren Überlegungsphase mir klarzumachen, dass ich auf diese Ängste und Befürchtungen nicht hören darf, denn die Nacht verstärkt sie wie ein Megafon die Stimme eines Sprechers. Ich stehe auf, ziehe meinen Bademantel an und nachdem ich die Tür etwas weiter aufgeschoben habe, um mich hindurch zu quetschen, hört das gespenstische Pfeifen plötzlich auf. Auf dem Balkon ist es ruhig und friedlich, es herrscht kein Sturm, es war nur der schmale Öffnungsspalt, der das Pfeifen verursachte. Es ist schön hier draußen, die Natur lenkt mich ab, endlich komme ich auf andere Gedanken.

 

 

Als ich die Kabine wieder betrete, höre ich ein schwaches „Toc, Toc, Toc.“

 

Es wird Julia sein, neunundneunzig Prozent der Nachrichten stammen von Julia und das eine Prozent kommt von Frank, ansonsten gibt es niemanden der sich für mich interessiert.

 

„DD auch, liebe Elena, tolle Bilder, ich beneide dich. Schön, dass es dir gut geht. Neues von der Brut:

Seit zwei Tagen bin ich für Mia keine Mama mehr, sie nennt mich nun Jula. Bisher war jede Belehrung zwecklos, aber ich kann es nachvollziehen, denn andere sagen ja auch Julia zu mir und Mia möchte mithalten. Inzwischen glaube ich, dass es mein kleines, blondes Lockendickköpfchen sogar extra macht. Beim Abholen in der Krippe ruft sie besonders laut nach Jula, was mir sonderbare Blicke seitens der Erzieherinnen einbringt und mich wie eine Rabenmutter fühlen lässt. Hoffentlich kommt Emil nicht auf die gleiche Idee.

Aber so ist das mit Kindern, jeden Tag eine neue Herausforderung.

IKD, Julia“

 

 

Sie küsst mich, intuitiv wische ich ihren Lippenstift von meiner Wange, obwohl mir dieser Kuss gerade etwas Heimat, Wärme und Geborgenheit vermittelt. Julia ist wirklich sehr lieb zu mir.

 

Heute ist bereits der zweite Seetag, es kommt mir vor, als ob die Zeit rennt. Drei opulente Mahlzeiten erscheinen mir mittlerweile doch zu mächtig, weshalb ich beschließe, zuerst das Frühstück ausgiebig zu zelebrieren und das Mittagessen ausfallen zu lassen. Entspannt streife ich durch eine unendliche Anzahl Restaurants und entscheide mich, wegen des Zugangs zur Terrasse, schließlich für die Brasserie auf Deck 6.

Nach einem ersten schnellen Kaffee auf dem kühlen, aber belebenden Außendeck, ziehe ich mich in den geschützten Innenbereich zurück, um mich nach und nach an den unterschiedlichsten Köstlichkeiten zu bereichern. Es ist das erste Mal an Bord, dass ich mich im Griff habe, dass ich gewählt zugreife und mich nicht vom Heißhunger und dem vielfältigen Angebot zwingen lasse, mich über Gebühr vollzustopfen. Ich kanns, geht doch.

Ich sitze ganz bewusst an einem großen Tisch und unterhalte mich angeregt mit wechselnden und teils sehr interessanten Gästen. Die Gespräche tun mir gut, weil sie mir keinen Raum lassen, um über meine fast allgegenwärtigen Probleme nachzudenken. Im Gegensatz zu meinem tristen Alltagsleben ist hier alles so bunt und lebhaft, heute fühle ich mich so richtig angekommen. Die positive Urlaubsstimmung der meist gut gelaunten Gäste scheint ansteckend zu sein, hebt meine Stimmung und gibt mir positive Energie für diesen Tag.

 

Auf der Marena läuft alles sehr entspannt ab, ich weiß gar nicht wo sich die zweitausend Passagiere alle verstecken. Du musst wissen: ich fühle mich ganz und gar nicht wohl, wenn zu viele Menschen um mich herumwuseln. In solchen Situationen kommt häufig meine Platzangst durch, die sich in Schweißausbrüchen und Angstgefühlen, oder sogar in schwachen Panikattacken äußert. Aus diesem Grund meide ich große Veranstaltungen wie Konzerte und gut frequentierte Straßenfeste, bei denen man sich durch die Menschenmassen quälen muss oder von anderen einfach hindurch geschoben wird.

Aber meine Angst auf dieser Kreuzfahrt, von den vielen Passagieren an Bord eingeengt zu werden, war völlig unbegründet. Bis auf wenige Stoßzeiten in den Restaurants scheint sich alles zu verlaufen, was nicht verwunderlich ist, denn die Marena erstreckt sich über dreihundert Meter Länge, zweiunddreißig Meter Breite und zwölf für die Passagiere zugänglichen Decks, eine unglaubliche Dimension.

 

Ich lasse mir einen letzten Caffè Crema kommen, mit dem Vorsatz, ihn ganz bewusst nach der Achtsamkeitsregel des Zen-Meisters zu genießen, meine Gedanken einen Moment lang abzuschalten, alle meine Sinne eben nur auf den Genuss dieses köstlichen Kaffees zu richten und, um ein paar Sekunden im Hier und Jetzt zu sein. Wenn ich trinke, dann trinke ich.

Mit geschlossenen Augen, die Nase so nah an der Tasse, dass ich bereits die Wärmestrahlung wahrnehme, sauge ich den Duft des Kaffees mit geschlossenen Augen tief ein und schlürfe Schluck für Schluck, um das kräftige, köstliche Aroma der gerösteten Bohnen auf dem Gaumen zergehen zu lassen. Es fühlt sich an, als ob ich gerade den allerbesten Kaffee meines Lebens genieße. Ich fühle, wie sich eine wohlige Wärme in meinem Körper ausbreitet, die auch gleichzeitig ein positives Gefühl in mir auslöst.

Heute frage ich mich, warum ich nicht schon viel früher alles ganz bewusst wahrgenommen habe. Das Zwitschern der Vögel am frühen Morgen, die Schönheit und Anmut der Natur oder den Duft von Blumen und Gräsern. Es ist hilfreich wenn der Geist bei dem ist, was der Körper gerade tut, damit die schönen Dinge des Lebens nicht achtlos an uns vorübergehen.

 

 

Durch die fast gänzlich umlaufende Glasfront ist nichts anderes zu sehen, als das azurblaue Meer. An der Front entlang stehen unzählige Sesselpaare aus weinrotem Leder, mit kleinen Tischchen dazwischen. Nachdem ich mich für einen entschieden und mich dort niedergelassen habe, komme ich mir vor als ob ich schwebe. Die Glasscheiben der Außenfront laufen stark nach innen und enden direkt vor meinen Füßen. Es vermittelt den Eindruck hoch oben im Freien zu schweben. Direkt vor mir tut sich ein unendlicher Abgrund auf, mit Blick auf die tief unter mir vorbeiziehenden Wellenberge und Täler, was die Höhenangst mit einem kleinen Adrenalinschub in meinem Körper aufleben lässt. Ich spüre, wie sich die Härchen auf meinen Unterarmen aufrichten, aber es geht, habe mich schon daran gewöhnt, ist echt göttlich dieser Ausblick.

 

Nimm bitte Platz, mich gelüstet es nach einem Cocktail. Ja ich weiß, ich mache dir schon wieder den Mund wässrig, aber versprochen, ich werde den Cocktail auf dich trinken. Vielleicht sitzt du ja selbst gerade in der Bar eines Kreuzfahrtschiffs um meine Zeilen zu lesen? Ich entscheide mich für Sex on the Beach, das passt zur Reise und es ist besser Sex im Cocktail, als gar keinen zu haben, denke ich, während ich grinsen muss. Prost, auf dich!

 

Julia darf ich auch nicht vergessen:

 

 

„Hallo meine Liebe,

fühle mich bestens, es ist eine Reise der Genüsse. Erst Schokokuchen bis zum Abwinken, dann Sex.

BB, Elena“

 

 

Das „BB“ habe ich noch auf „HDL“ geändert, weil „bis bald“ gelogen sein könnte.

 

 

Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich dir etwas von meiner beruflichen Laufbahn erzähle. Nachdem ich als Jugendliche fast jeden Tag für irgendwelche Helfer- oder, meinem Können entsprechend, auch schon für Gesellenarbeiten in der Schreinerei meines Vaters mit eingeplant war, konnte ich mich nicht mit aller Kraft auf die Schule konzentrieren und es war ein sehr mühsamer Weg für mich. Das Abitur schaffte ich jedoch, mit einem mittelmäßigen Abschluss.

Warum ich anschließend eine Schreinerlehre bei meinem Vater angetreten habe, frage ich mich noch heute. Es war ganz und gar nicht mein Wunschberuf, aber wenigstens ein Weg ohne Widerstand. Natürlich habe ich mich verpflichtet gefühlt, irgendwann einmal die Schreinerei zu übernehmen, die Hoffnung meiner Eltern auf den Fortbestand des, mit harter Arbeit und vielen Entbehrungen aufgebauten, Betriebes zu gewährleisten. Aber wie ich heute weiß war es falsch, entgegen meiner Neigungen, in die Fußstapfen meiner Eltern zu treten, nur weil es ihr Wunsch war, denn es ging nicht um ihr Leben, sondern einzig und alleine um meine eigene Zukunft.

 

 

„Toc, Toc, Toc,“

„Schokolade und Sex, ein Traum, wäre mir auch gerade danach. Kann leider nur auf Schokolade zugreifen. Tom ist nicht da, hat ohnehin im Moment keine große Lust auf mich.

Sex? Du verarschst mich doch gerade, oder hab ich was verpasst?

WASA“

 

 

Entschuldige bitte die Unterbrechung! Julia wartet auf schnelle Antwort, werde sie aber ganz bewusst etwas leiden lassen. Nun aber weiter mit dem angefangenen Thema:

Für Jugendliche ist es wichtig einen ganz persönlichen Weg zu finden und sich nach ihren eigenen Vorlieben und Wünschen zu richten. Es ist natürlich nicht leicht in diesem Alter, weshalb es wichtig ist, dass Eltern nur beratend zur Seite stehen, neutral eben, das Wohl ihres Kindes in den Vordergrund rücken und ihre eigenen Interessen hinten anstellen. Erst heute verstehe ich, dass es um nichts anderes ging, als um mein eigenes Berufsleben, die Tätigkeit, die ich voraussichtlich über Jahrzehnte hinweg Tag für Tag ausüben würde.

 

 

 

„Toc, Toc, Toc,“

 

„Bitte!“

 

 

Sie kann es nicht abwarten, weshalb ich ihrem Drängen zu antworten nun nachgebe.

 

 

„Sex on the Beach J

 

 

Mehr schreibe ich nicht, hänge jedoch ein Foto vom Cocktail an.

 

 

„Toc, Toc, Toc,“

„dubido“

 

 

Wenn ich wirklich doof wäre, dann wäre ich jetzt zutiefst beleidigt, aber ich weiß ja von wem es kommt.

 

So, wie wäre es, den Schiffsrundgang fortzusetzen? Sex on the Beach ist ganz schön anstrengend. Der Alkohol ist mir schon zu Kopf gestiegen, aber ich schaffe es, mich aufzuraffen. Es geht eine Treppe nach unten, auf Deck 14. Hier befindet sich der Running Track, der komplett um das Schiff herum führt. Aus Schiffslänge und Breite ergibt sich eine Strecke von circa sechshundertsechzig Metern. Gut sieben Runden ergeben fünf Kilometer, die Strecke, welche ich in meinem früheren Leben fast täglich gejoggt bin. Vielleicht schaffe ich es während der Reise wieder daran anzuknüpfen, es würde mir bestimmt guttun.

Echt irre, was hier alles geboten wird. Vor mir ragt eine mindestens fünf Meter hohe Kletterwand gen Himmel, die in Form eines grauen Felsens ausgebildet ist. Daneben steht eine kleine Version, die mich neugierig macht. Soll ich es mal versuchen? Nachdem meine Hände zwei Knubbel gefunden haben, an denen sie Halt finden, steige ich auch mit den Füßen ein.

Da hänge ich, schaffe es gerade so, mich mit zwei Händen zu halten, aber loslassen, um den nächsten Griff zu fassen, geht leider nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl beobachtet zu werden, was mir ein Blick über die Schulter, in mehrere vor Schadenfreude grinsende Kindergesichter, bestätigt.

Ein paar Sekunden verharre ich noch, während derer ich mir vorkomme wie ein träger, nasser Sack, aber nun schmieren meine Hände ab. Abgekackt, und das direkt vor den Kindern, peinlich, peinlich. Das kleine Mädchen springt sofort an die Wand und klettert, binnen weniger Sekunden, wie ein Äffchen bis ganz oben. Nichts wie weg hier.

 

 

 

Ich muss unweigerlich an Frank denken, wie schön es wäre mit ihm hier zu sein, die Annehmlichkeiten dieses wahnsinnig tollen Kreuzfahrtschiffs gemeinsam zu genießen, die schöne Natur miteinander zu erkunden und das Wichtigste: einen Partner zu haben, der für einen da ist, den man liebt, den man umarmen kann, mit dem man Zärtlichkeiten austauschen kann.

Er war meine erste große Liebe und ich kann mir zurzeit keinen anderen Mann an meiner Seite vorstellen, denn mein Herz schlägt nach wie vor nur für ihn. Ich verstehe, dass er mich verlassen hat und sein Glück bei einer anderen sucht, denn ich war ihm die letzten Jahre nur ein Klotz am Bein. Mein Zustand belastete auch Frank schwer und er ging nicht wegen ihr, damals kannte er seine jetzige Freundin noch nicht, sondern aus Eigenschutz.

Er sorgt sich nach wie vor um mich und wir telefonieren ab und zu miteinander. Aber das macht es nicht leichter, sondern eher noch schwerer mit der Situation fertig zu werden. Mit jedem Auflegen trifft mich ein tiefer Schmerz, wird mir bewusst, dass er seine Entscheidung nicht bereut hat und mit seiner Neuen glücklich ist.

Ich darf nicht zurückschauen, nicht während dieser schönen Reise. Welchen Weg werde ich gehen? Bisher bin ich in meiner Entscheidung keinen Schritt weiter gekommen. Ich schwanke auf einem schmalen Grat, hart am Abgrund, mit der Überlegung loszulassen, um alles zu beenden.

Andererseits sehe ich bereits das Gipfelkreuz vor Augen, aber es ist weit, weit weg und ich habe Zweifel ob meine Kräfte ausreichen werden, es in absehbarer Zeit zu erreichen. Ich weiß, auch du wirst mir sagen, dass ich den Blick nach vorn richten und im Hier und Jetzt leben soll, wie es die Psychologen ausdrücken, aber das ist als Betroffene nicht so einfach.

 

Welch ein Glück ich mit dem Wetter habe. Die große Hitzewelle kann man auf dieser Reise zwar nicht erwarten, denn die durchschnittlichen Temperaturen liegen, meinen Recherchen nach, zwischen sechs Grad im nördlichen und zwanzig Grad im südlichen Norwegen, aber der Himmel ist klar und die Sonne kräftig, weshalb ich mich entschließe die Treppe zum Pooldeck hinunterzugehen, um das Treiben an Bord von einer Liege aus zu beobachten.

Schau doch mal wie viele Menschen heutzutage tätowiert sind. Nicht nur einzelne, kleine, zurückhaltende Tattoos, sondern komplette Arme, Beine, Bäuche, Rücken und vermutlich auch ihre Hintern, haben sie sich zustechen lassen. Macht sich denn niemand mehr Sorgen um seine Zukunft? Ob ihnen das in zehn oder zwanzig Jahren noch gefallen wird? Alle Achtung vor diesem Selbstbewusstsein, da könnte ich mir eine Scheibe von abschneiden.

 

 

Ich ziehe meine Karte durch das Lesegerät und mit meinen Worten „Sesam öffne dich“, schwingt die Tür wie von Geisterhand auf. Charlotte, die Concierge, begrüßt mich persönlich, gratuliert mir zu meinem Gewinn und weist mich kurz ein. Es ist ganz einfach, alles was angeboten wird ist frei.

Es ist das Reich von betuchten Suitengästen und Vielfahrern mit Gold-, Platin- oder xy-Status, die hier während ihrer ganzen Reise freien Zutritt haben und damit von der Reederei besonders hofiert werden. Im ersten Moment komme ich mir fehl am Platz vor, aber nachdem ich mich etwas umgesehen habe, verstehe ich rasch wie wertvoll mein Gewinn ist.

Du wirst es kaum glauben, hier gibt es nur vom Feinsten. Champagner Weiß, Champagner Rosé, Grappa Prosecco, belgische Pralinen, unzählige leckere Snacks, Kuchen und Kaffeespezialitäten werden hier rund um die Uhr vorgehalten. Eigentlich ist die Versorgung auf der Marena ohnehin schon üppig genug, aber diese Leckereien bekommt man in den Restaurants nur gegen Aufzahlung.

Sei nicht neidisch auf mich, ich bin sicher, ein Gläschen Champagner Rosé vor dem Abendessen wirst du mir gönnen. Man bedient sich hier selbst, aber wie ich sehe ist der Rosé noch nicht entkorkt. Ja, keine Angst, ich kann es, aber etwas Bammel habe ich schon. In der Hoffnung, dass sich jemand anbietet, schaue ich mich hilfesuchend um, als plötzlich ein weiterer Gast die Lounge voller Elan betritt.

         Mir fällt fast die Kinnlade herunter, als er direkt auf mich zuschreitet. Ich schaue links und rechts, aber er scheint wirklich meine Wenigkeit auserkoren zu haben oder er ist vielleicht nur gierig auf den Schampus. Tief gebräunt, blonde Haare, dunkelblauer Anzug, aber kaum vorzustellen, quietschgelbe Schuhe, die alles in mir zusammenziehen, als ob ich gerade in eine Zitrone gebissen hätte. Meine Augen können sich kaum lösen, schmerzen fast von dieser grellen Farbe und erst, als er mich mit „darf ich“ anspricht und mir die Flasche einfach aus den Händen nimmt, schüttele ich mich in Gedanken aus meiner Schockstarre und schaue ihm ins Gesicht.

 

„Ich bin Single und mit diesen Schuhen komme ich leichter mit attraktiven Frauen ins Gespräch“, antwortet er, ohne dass ich gefragt hätte, teilt mir damit seinen Familienstand mit und gibt mir gleichzeitig ein Kompliment.

 

Ein Meister seines Fachs, denke ich, und kurz darauf sitze ich mit ihm an einem Tisch. Ein extrovertierter Schauspieler? Vielleicht ein bekannter Künstler? Müsste ich ihn kennen? Ich bin mir nicht sicher, aber so wie er gekleidet ist, scheint er sehr wohlhabend zu sein. Auf jeden Fall äußerst einnehmend, um es vornehm zu umschreiben.

Bereits nach fünf Minuten erfahre ich, dass ich genau die Richtige für ihn bin und dass er kein Mann für eine Nacht ist. Nein, für eine Nacht bestimmt nicht, vermutlich nicht mal für fünf Minuten. Rein, rauf, runter, raus. Der Fünf-Minuten-Mann, denke ich, während ich mir das Grinsen kaum verkneifen kann. Fünf Minuten Anmache, in fünf Minuten flach gelegt und in fünf Minuten wieder verschwunden. Ja, so kommt er mir vor. Die Schlinge zieht sich rasch zu und in kürzester Zeit nimmt er mir die Luft zum Atmen.

 

 

Dutzende kleine Ausbuchtungen durchbrechen die Geländer der Galerien und wirken wie durchsichtige Vogelnester oder Kanzeln, wie sie in Kirchen zum Predigen genutzt werden. Meine Höhenangst meldet sich kurz, als ich ein Nest betrete, dessen Boden ebenfalls aus Glas besteht. Es kommt mir vor, als ob ich frei über dem Abgrund schwebe, woran ich mich erst gewöhnen muss.

Mit einem Kleid würde ich mich hier nicht wohl fühlen. Der Gedanke, dass ich unten herum nackt wäre und mir sämtliche Gäste der unteren Ebenen zwischen die Beine sehen könnten, drängt sich ganz plötzlich in den Vordergrund, lässt mich kurz frösteln, aber ich kann ihn rasch zur Seite schieben. Die Galerien laufen rundum, die ganze Schiffsbreite einnehmend und ich blicke in ein gigantisches Loch, das sich über alle Ebenen des Atriums erstreckt, das aussieht wie ein überdimensional großes Theater ohne Sitzplätze.

Sechs gläserne Raumkapseln schießen zwischen den Nestern an den Galeriekanten entlang emsig auf und ab, um den Strom der Gäste wie in einem Logistikzentrum auf die vielen Ebenen des Atriums zu verteilen. Ich bin am Puls des Lebens, dem Herzen des Schiffs angekommen. Die vielen Gänge, welche hier münden, sehe ich als Venen und Arterien an und das pulsierende Blut, das ist der Strom der Gäste, der nie abzureißen scheint. Rote und weiße Blutkörperchen ordne ich Männlein und Weiblein zu.

Von der Bühne herauf, die sich im Schlund des Atriums befindet, tönt Schlagermusik an meine Ohren. Die MARENA HEUTE verrät mir, dass Karaoke angesagt ist und die Gäste dazu eingeladen sind, sich selbst auf die Bühne zu begeben. Klingt verdammt gut, sehr professionell, denke ich und werfe einen neugierigen Blick hinunter, auf den singenden Gast. Zuerst fallen mir die gelben Schuhe auf.

 

Ja, du weißt schon, um wen es sich handelt. Der Fünf-Minuten-Mann besitzt noch andere Talente als Frauen anzumachen. Vermutlich schmelzen die vor der Bühne sitzenden Mädels gerade vor sich hin wie Schokolade in der heißen Sonne. Aber ich muss gestehen, seine Schlagerstimme ist betörend, so betörend, dass er Standing Ovations bekommt und sich gerne zu einer Zugabe auffordern lässt, die ich ebenfalls genieße, bevor ich meinen Rundgang fortsetze.

Ich überbrücke das Atrium an den Glaswänden entlang in luftiger Höhe, während ich immer wieder tief nach unten blicke, in das vom Rumpf aufgeschäumte Meer, das an der Marena vorüberzieht. Die untergehende Sonne gibt nicht auf, hält sich hartnäckig über dem Horizont. Ich kann dir das ständig wechselnde Schauspiel der Natur, welches mein Herz immer wieder neu erobert, nicht wirklich beschreiben. Schon nach wenigen Minuten wandeln sich die Bilder, jedes ein Unikat für sich.

Leuchtende Wolkenformationen, die sich kreativ aneinanderreihen oder sich auf einer langen Linie knapp über dem Horizont wie einzelne, kleine Wattebäuschlein verteilen, wechseln sich mit ganz wilden, bizarren, teils zerrupften Wolkengebilden ab.

Gerade im Moment bereichert ein kleines Fischerboot die Szenerie, fährt im Spektrum der Farben direkt durch die Sonne hindurch. Ich bin fasziniert, stehe mehrere Minuten gebannt am Handlauf, mache vermutlich gerade das hundertste Handyfoto, bis ich mich losreißen kann und in Richtung des Bugs schlendere.

 

 

                                                                                                Tag 5 Geiranger

 

Punkt fünf Uhr, wir müssen aufstehen. Für den heutigen Tag ist es gut, dass ich wie gewohnt früh aufgewacht bin, denn wir sind bereits vor einer halben Stunde in die Fjorde Norwegens eingefahren. Ich hoffe, du hast dich schon an das frühe Aufstehen gewöhnt.

Für meine Verhältnisse habe ich sehr gut geschlafen, was an der frischen Seeluft liegen muss. Der MARENA HEUTE nach, ist die Sonne schon seit über einer Stunde aufgegangen, aber das Streulicht um die Ränder der Vorhänge herum ist an diesem Morgen wesentlich schwächer ausgeprägt als sonst. Ich ziehe die Gardinen auf die Seite und sehe direkt vor mir, vermeintlich zum Greifen nah, ein stattliches Felsmassiv ganz gemächlich, majestätisch an mir vorüberziehen.

Noch im Pyjama lockt es mich auf den Balkon hinaus, um einen ersten Überblick zu gewinnen. Die frische Luft durchdringt den dünnen Stoff innerhalb von Sekunden und die Kälte, die sich schlagartig auf meiner Haut ausbreitet, ist so intensiv, dass es sich anfühlt, als ob ich völlig nackt hier stehen würde. Es macht mir nichts aus, meine Begeisterung für die beeindruckende Natur ist so groß, dass ich das Frieren förmlich vergesse.

Wir sind bereits tief in die Welt der Fjorde eingetaucht. Gigantische, graue, steil aufragende Felswände recken sich gen Himmel, wirken von hier unten unendlich hoch und lassen mein Herz sofort etwas schneller schlagen. Meine Güte, ich habe richtiggehend Respekt vor diesen Giganten, aber ich bin zu nah dran, um einen wirklichen Überblick gewinnen zu können und beschließe, mich unverzüglich an Deck zu begeben.

Hoffentlich habe ich nichts verpasst, denke ich, während ich mir rasch meine Sachen überstreife. Mit einer warmen Jacke, Schal, Mütze und Handy für die Fotos ausgerüstet, haste ich durch die Flure und schraube mich über die unzähligen Treppen so weit wie möglich nach oben. Schminken kann warten, hoffe nicht, dass ich dem Fünf-Minuten-Mann so in die Arme laufe, aber so wie ich ihn einschätze, hat er die Nacht durchgemacht und liegt noch grunzend in seiner Kabine, oder vielleicht auch auf einer anderen, in den Armen einer Frau die es nötig hatte. Ich weiß, vielleicht tue ich ihm Unrecht, aber diese Gedanken sind mir einfach gekommen.

 

Beim Gang über das Pooldeck lockt mich der Duft von frischem Kaffee zur Poolbar, an der es das Frühstück für Frühaufsteher gibt. Mit einem Pott Kaffee und einem fetten Croissant bestückt bezwinge ich, mittlerweile schon etwas erschlafft, die letzten Treppen. Endlich bin ich auf Deck 14 angekommen und laufe nun, wieder leichten Schrittes, den Running Track entlang, bis ich den Bug erreicht habe.

Meiner Höhenangst geschuldet werfe ich den ersten Blick nach unten, auf die tiefblaue, eher sogar schwarzblaue Wasseroberfläche, und die Vorstellung, dass das Wasser zwischen den Fjorden bis zu zweihundertfünfzig Meter tief ist, veranlasst meinen Körper zu einem mittelschweren Adrenalinausstoß. Er verursacht schlagartig ein starkes Kribbeln in den Beinen, das sich jedoch rasch wieder verflüchtigt. Überstanden, ich kann wieder durchatmen, wenigstens besteht hier keine Gefahr auf Grund zu laufen.

Erst jetzt schaue ich entspannt nach vorn und von meinem Aussichtspunkt, auf geschätzten vierzig Metern Höhe, habe ich einen erhabenen, grandiosen Blick in diesen einzigartigen Fjord hinein. Die Luft hier fühlt sich noch frischer und klarer an als in den Alpen, hält mich dazu an, sie mit mehreren tiefen Atemzügen wie einen guten Duft zu inhalieren. Ich spüre die kühle, noch etwas feuchte Luft in meinen aufgeblähten Lungenflügeln, spüre die Energie förmlich in meinen Körper einströmen, es fühlt sich wirklich sehr gut an.

 

Mir ist gerade danach die Arme auszubreiten und lauthals in die Natur zu rufen: „Ich bin die Königin der Welt“, aber dazu bin ich zu schüchtern und irgendwie finde ich es auch ein bisschen doof und unangemessen, diese friedliche Ruhe im Fjord zu stören.

Die unberührte Natur beschert mir Gänsehaut am ganzen Körper. Meine Beschreibung dessen, was ich in diesem Moment gerade sehe und fühle, kann diesem Eindruck keinesfalls gerecht werden, aber ich werde versuchen, dir meine Eindrücke so gut es mir möglich ist und so gut ich es formulieren kann zu vermitteln.

Ich bin ein Kind der Natur, sie berührt mich wesentlich stärker als die schönsten Städte, die mir mit ihren vielen Menschen und dem allgegenwärtigen Verkehr meist viel zu wuselig, hektisch und laut erscheinen, in denen ich mich nicht wirklich wohl fühle.

Sei gegrüßt liebe Natur, ich verneige mich vor dir. Zwischendurch sauge ich den Duft meines Kaffees ein, nippe ab und zu ein Schlückchen, um die Geschmacksknospen auf meiner Zunge zum Leben zu erwecken, ein zusätzlicher Genuss in diesem erhabenen Augenblick, ich weiß gerade nicht so recht wie mir geschieht.

 

Kaum hörbar und mit sehr langsamer Geschwindigkeit schiebt sich die Marena durch die Stille des Fjords. Es sind nur vereinzelte, kleine Nebelschwaden, die in etwa auf Höhe der Gipfel schweben, welche den Blick auf die steinernen Giganten aber nicht beeinträchtigen. Die massiven Felswände um mich herum sind schon in grauer Vorzeit aus den Tiefen des Fjords herausgewachsen, haben die Oberfläche des tiefblauen Wassers durchstoßen, um nun hoch in den Himmel aufzuragen. Trotz des kargen Untergrunds und der steilen Wände schaffte es die Natur einem Großteil der Flächen einen grünen Anstrich zu verpassen. Gräser, Moose, Farne, Sträucher und Bäume konnten im Laufe der Jahrtausende den nackten Fels nach und nach erobern.

In den höheren Lagen entdecke ich immer wieder Felsvorsprünge die sich mit Schneebrettern schmücken, welche aussehen wie kleine Sahnehäubchen. Die oberen Bergkämme sind zurzeit fast gänzlich mit Schnee überzogen. Von dort aus ergießen sich Schmelzwässer, durch den Anstieg der Temperaturen in dieser Jahreszeit gerade verstärkt, die sich von kleinen Rinnsalen, bis hin zu gewaltigen tosenden Sturzbächen und mehrstrahligen Wasserfällen, steil an den Felsen entlang in den Abgrund stürzen, um den Fjord mit frischem Süßwasser zu speisen. Trotzdem ist das windgeschützte Fjordwasser hier fast spiegelglatt.

Mist, mein Croissant ist weg, ich muss es vor lauter Staunen in mich hineingemampft haben, ohne die Achtsamkeitsregel zu beachten. Jetzt habe ich das Fett des leckeren Teilchens eben ohne Genuss auf den Hüften. Wie angewurzelt stehe ich, mit meiner dampfenden Kaffeetasse, auf dem für mich gerade schönsten Fleck der Erde. Mein Herz klopft heftig, ja, trotz der beruhigenden Stille und beeindruckenden Natur bin ich aufgeregt, oder vielleicht gerade deswegen.

 

Mein Gott, diese gigantischen Felsmassive, die der Natur schon seit Jahrtausenden, vielleicht schon seit Jahrmillionen trotzen sind im Gegensatz zu uns Menschen, deren Dasein im Laufe der Erdgeschichte höchstens mit einem Wimpernschlag vergleichbar ist, fest mit der Erde verwachsen und machen mir gerade bewusst wie unbedeutend wir für Mutter Erde sind.

Warum reißen wir uns eigentlich den Arsch auf in dieser kurzen Zeit? Entschuldige bitte, das wollte ich jetzt nicht wieder wegradieren. Warum arbeiten wir wie die Bekloppten und versuchen ein Leben lang Besitztümer anzuhäufen?

Der Vergleich zwischen meinem organischen, dem Verfall geweihten Körper, mitsamt Geist und Seele, mit diesen steinernen Zeugen der Erdgeschichte zeigt mir wie vergänglich unser Dasein ist. Es spielt keine Rolle für Mutter Erde ob ich meinen Kampf nach der Reise fortführe oder meinem Leben ein vorzeitiges Ende setze. Mir ist bewusst, dass dies keine guten Gedanken sind, weshalb ich mich wieder auf die Schönheit der Natur konzentriere.

 

Während sich die Marena weiterhin langsam und vorsichtig durch das enge und kurvige Fahrwasser schlängelt, mache ich ein Selfie für Julia. Blickrichtung nach vorn in den Fjord hinein, mit grinsendem Gesicht, das eine heile Welt vermitteln soll. Aber im Moment scheint wirklich alles gut zu sein für mich, ich brauche meiner Freundin also nichts vorzumachen.

Ein weiterer Kreuzfahrtriese, der den Fjord verlassen möchte, fährt beängstigend nah an uns vorbei. Auge in Auge winken sich die hartgesottenen, vermummten Frühaufstehergestalten begeistert zu.

 

 

Als ich meinen Fuß an Land setze, bin ich sehr erleichtert, atme mehrmals tief durch, das hilft immer und im Gegensatz zum ersten Mal, finde ich mich überpünktlich am vereinbarten Treffpunkt ein.

Direkt vor mir befindet sich eine große Tafel mit der Überschrift „UNESCO World Heritage Natural Site“, auf die ich ehrfürchtig blicke.

 

Ja, der Geirangerfjord gehört zum Weltkulturerbe und ist ganz sicher einer der beeindruckendsten Fjorde Norwegens. Gegenüber steht ein überdimensionaler, von Zahnausfall betroffener, aber freundlich grinsender Troll, ein Fabelwesen, in dessen Armen sich Besucher reihenweise ablichten lassen.

Schnell noch Pipi machen, der viele Kaffee fordert seinen Tribut, und meine etwas hudelig bemalten Lippen sauber nachziehen, schließlich möchte ich ja gepflegt aussehen und schon ist es an der Zeit, mich zum Treffpunkt zu begeben.

 

Riccardo ist mit seiner Gruppe ebenfalls pünktlich und nach einer kurzen, aber sehr herzlichen Begrüßung, begeben wir uns zum Startplatz des Ausflugs. Nein, es ist kein Großraumtaxi das auf uns wartet, sondern eine feudale Stretch-Limo, in strahlendem Weiß. Die Überraschung ist gelungen, denke ich, während mir Riccardo grinsend den Schlag öffnet und mich mit einer einladenden Geste zum Einsteigen auffordert.

Schon schweben wir die steile Straße hinauf und bereits der erste Aussichtspunkt beeindruckt mich zutiefst. Vor unseren Füßen geht es abgrundtief hinunter, fällt mein Blick auf einen tosenden Gebirgsbach, der sich bis in den Fjord hinein ergießt und den Ort Geiranger in zwei Hälften spaltet, der auf einer, von überwiegend grünen Wiesen dominierten, kleinen Ebene liegt. Auf der rechten Seite ist bereits die Adlerstraße zu erkennen, die vom Fuße des Fjords aus über die bekannten Adlerkehren im Zickzackkurs auf über sechshundert Meter Höhe führt.

Die Marena wirkt schon von hier aus so klein wie ein schwimmender Schuhkarton. Rechter Hand, in unserer unmittelbaren Nähe, ragt ein steiles, nacktes Felsmassiv empor, dessen Flanke aussieht, als ob sie von Menschenhand abgesägt wäre. Auf der Kuppe stehen drei wagemutige Touristen, deren einheitlich rot leuchtende Jacken sich von der graugrünen Natur deutlich abzeichnen.

 

Nach dem Fotostopp und einem leckeren Glas Sekt aus der Bordbar, der mir sofort in den Kopf steigt, bringt uns die Limo sicher nach oben, vorbei an meterhoch aufgetürmten Schneeschichten, die, wie mit dem Spaten abgestochen, direkt neben der Straße emporragen, aber durch den Staub des Verkehrs schon etwas angegraut wirken.

Wir sind am luftigen, frischen Aussichtspunkt „Dalsnibba“, auf circa fünfzehnhundert Metern Höhe angekommen. Die Wolkendecke liegt knapp unter uns, wirkt wie ein weißer Schaumteppich über den man von Gipfel zu Gipfel schreiten könnte. Nebelschwaden streichen über die Kämme und umschmeicheln sie sanft wie ein endloses Band aus zarter Watte.

Der Ausblick in den Fjord hinein ist uns zwar verwehrt, aber das Panorama über den gigantischen Wolkenfeldern, mit den durchspitzenden Gipfeln, entschädigt uns voll und ganz.

Mein Gott, dass ich das noch erleben darf. Ich fühle mich fast wie in einer surrealen Welt, stehe zuerst sehr lange wie angewurzelt da und weiß nicht wohin ich mein Ei legen soll, bis ich mich dazu entschließe, bei frischen zehn Grad, einfach über die Schneefelder hinweg zu stapfen. Schon nach wenigen Metern komme ich staunend vor einem schneefreien Geröllfeld mit hunderten von Steinmännchen zum Stehen.

Soweit mir bekannt wurden die aufgetürmten Steinhäufchen früher als Wegzeichen genutzt, aber vielleicht gibt es auch andere Bedeutungen. Kurzentschlossen suche auch ich mir einige Steine zusammen und versuche sie kunstvoll zu stapeln. Zuerst baue ich eins für dich und nun ein weiteres für meine Wenigkeit, als Zeichen, dass wir da waren, obgleich ich weiß, dass es bei den vielen Besuchern nur eine gewisse Zeitspanne unberührt bleiben wird, aber was ist schon für die Ewigkeit. Ein Foto muss sein, denn ich finde die steinigen Zeugen unserer Anwesenheit sehr kreativ und wirklich schön.

 

Ganz plötzlich kommt mir der Gedanke, dass ich dem Himmel hier sehr nahe bin. Warum kann man sich nicht einfach so hineinbegeben, hochwandern, oder über ein Trampolin hineinspringen?

Ich habe mich noch nicht entschieden, bin nicht sicher ob ich mein Zuhause wiedersehen werde, ob ich dich bis zum Ende der Reise begleiten kann, ob ich den Mut habe meinen täglichen Kampf zuhause weiterzuführen. Vielleicht wird das Steinmännchen zu einem letzten stummen Zeugen meines verkorksten Daseins, meiner Existenz auf Erden.

Zugegeben, bisher konnte ich die Reise genießen, fühle mich die letzten Tage sehr wohl mit dir zusammen und den vielen Gästen. Alles was um mich herum passiert belebt meinen Geist und Körper, zeigt, dass es das Leben wenigstens ab und zu gut mit mir meint, zumindest fühlte es sich bisher so an.

Trotzdem bröckelt mein Lebenswille gerade wie der Putz einer verkommenen Fassade. Ich werde von Melancholie überflutet und während ich noch kniend auf meine Männchen schaue, scheinen diese plötzlich zu verschwimmen. Ich verliere das Gleichgewicht und schlage mit meiner Schulter auf einen harten Felsblock auf. Es schmerzt schrecklich, bringt mich aber in die Realität zurück.

 

„Geht es dir nicht gut?“, fragt Riccardo, der sich wohl in meiner Nähe befand, während er mir auf die Beine hilft.

 

„Nein, ist schon alles in Ordnung, vielen Dank. Ich habe nur das Gleichgewicht verloren“, antworte ich verlegen.

 

 

Während ich die Gelegenheit beim Luftholen auf der Terrasse nutze, um einen Blick am schier endlos erscheinenden Schiffsrumpf entlang nach vorn zu werfen, bietet sich mir ein unbeschreibliches Szenario der Naturgewalten.

Ehrfürchtig blicke ich auf die Ausfahrt des Fjords, die seitlich von Bergen eingefasst und oben durch eine geschlossene Wolkendecke begrenzt ist. Ich schaue direkt in das gleißende Licht der tiefstehenden Sonne, die von der Seeseite aus in den Fjordausgang hineinstrahlt und ihn wie das leibhaftige Fegefeuer erscheinen lässt.

Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, so muss es aussehen, das „Tor zur Hölle“, das wir in wenigen Minuten passieren werden. Diese Vorstellung erfüllt mich mit Angst, denn ich weiß nicht was sich hinter der unwirklichen Erscheinung vor uns verbirgt. Erwartet uns vielleicht sogar ein fürchterliches Unwetter mit zuckenden Blitzen und grollendem Donner? Wenn der Blitz auf dem Deck einschlägt, bekommen wir dann alle einen Schlag? Metall leitet doch, oder? Ich fühle mich gerade etwas unwohl hier, aber wenn dem so wäre, dann würde ja niemand mehr eine Kreuzfahrt unternehmen.

Je näher wir kommen, umso wilder gestaltet sich dieses außergewöhnliche Kunstwerk, desto deutlicher fühle ich mein Herz schlagen. Den in Grau- und Blautönen leuchtenden, mit einer geheimnisvollen Energie geladenen, düsteren Wolkenschichten schließen sich, je näher wir kommen, immer mehr goldgelbe, mit orangefarbenen Adern durchzogene, freundliche Wolken an, die das „Tor zur Hölle“ nach oben begrenzen.

Ganz plötzlich, beim Passieren der Fjordausfahrt, geht der Himmel auf, sind die Wolken wie weggeblasen und die Sonne strahlt mir freundlich entgegen, ganz unschuldig, so, als ob nichts gewesen wäre. Das Meer ist ruhig und friedlich soweit das Auge reicht, es kommt mir vor wie ein Wunder, unglaublich.

Beim Blick zurück erscheinen die steilen Ausläufer des Gebirges in einem sehr ungewöhnlichen, seltsam schimmernden Licht, in dem sich das gesamte Spektrum des Regenbogens zu verbergen scheint.

Ich beschließe meinen Gewinn zu nutzen und den Sonnenuntergang in der Sunset Lounge, bei einem Glas Champagner Rosé zu beobachten. In einem bequemen Sessel genieße ich Schluck für Schluck des kühlen, köstlichen Stoffs, während ich das spektakuläre Farbenspiel der untergehenden Sonne weiter bewundere.

 

Ich muss gerade an Julia denken, sie kann sich so eine Reise mit ihrer Familie im Moment nicht leisten, die Kinder wären auch noch zu klein, um dem Norden etwas abzugewinnen. Natürlich möchte ich sie mit meinen schönen Aufnahmen nicht neidisch machen, aber sie bat mich ausdrücklich um möglichst viele Informationen und Fotos, weshalb ich ihr jetzt eine WhatsApp mit den Bildern der Steinmännchen und dem geheimnisvollen „Tor zur Hölle“ schicken werde.

Es ist auch eine Art Überwachungsmaßnahme von ihr, Julia fühlt sich für alles und jeden verantwortlich, ganz besonders für mich. Aber ich möchte mich nicht darüber beklagen, im Gegenteil, ich habe ihr viel zu verdanken, denn ohne ihren Beistand hätte ich mich schon längst von dieser Welt verabschiedet.

 

 

„Liebe Julia,

was sagst du zu meinen Steinmännchen? Ist das nicht kindisch?

Das Tor zur Hölle (anderes Bild) hat sich als Tor zum Himmel erwiesen, das die Bühne zu einem wunderschönen Sonnenuntergang freigegeben hat.

Ich genieße es gerade sehr.

gn8, Elena“

 

 

Inzwischen sitze ich an meinem Schreibtisch, den Bademantel übergestreift, um mein Tagebuch fortzuschreiben. Ich habe keine Lust mehr auf Grübeleien, muss versuchen mich abzulenken, um den Kreis zu durchbrechen. Alles ist ruhig an Bord, nur das vertraute, sanfte Rauschen des Meeres dringt an meine Ohren. Auch heute Nacht musste ich wieder unzählige schlimme Träume durchleben. Das letzte was ich in Erinnerung habe ist eine Situation, die ich jahrelang in ähnlicher Form verkraften musste.

Mein Vater war mal wieder auf Hundertachtzig, wie es fast jeden Tag passierte. Cholerisch schreiend und wild gestikulierend tobte er in unserer Schreinerei, weil es ihm kein Mitarbeiter recht machen konnte. Auch meine Mutter und ich wurden nicht verschont und mussten den ständigen Ärger über viele Jahre hinweg ertragen. Er schien nicht zu bemerken wie sehr er seine Mitarbeiter, meine Mutter und mich am laufenden Band verletzte und gab sich nach Feierabend so, als ob nichts vorgefallen wäre. Mein Vater kam mir in dieser Zeit so vor, als ob er ein Mensch ohne Gefühle wäre, ohne jegliche Sensibilität für seine Mitmenschen.

Für mich war das tagein tagaus nichts anderes als Psychoterror. Der Ärger nagte unablässig an meinen Nerven und hat mich häufig bis zur Verzweiflung getrieben.

 

Du wirst dich fragen warum ich mir das über einen so langen Zeitraum angetan habe und nicht einfach weggelaufen bin, aber ich weiß es nicht, ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß es einfach nicht warum ich so lange standgehalten habe, es ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Vielleicht war es nur, um meinen Eltern gerecht zu werden und dem mit viel Entbehrungen von meinem Vater aufgebauten Betrieb eine Zukunft zu geben.

Die Angst vor dem nächsten Arbeitstag, mit diesem belastenden Betriebsklima, bestimmte immer mehr meine Träume und Nächte. Private Gespräche zwischen meinem Vater und mir gab es kaum noch. Es drehte sich fast alles ausschließlich um geschäftliche Belange: zu viele Aufträge, zu wenige Aufträge, Probleme hier, Probleme da. Irgendwann bin ich ihm nur noch aus dem Weg gegangen, habe versucht die Schreinerei aus meinem Privatleben zu verbannen, aber dies war ein erfolgloses Ansinnen, es wollte mir einfach nicht gelingen.

Nach vielen Jahren der Auseinandersetzungen musste ich die Reißleine ziehen, um mich zu schützen, um nicht als Wrack zu enden, um wenigstens in Zukunft ein lebenswertes Leben führen zu können und um meine sehr strapazierten, dünnen Nerven zu schonen. Erst nach mehreren erfolglosen Anläufen konnte ich mich dazu überwinden meinem Vater zu offenbaren, dass ich den Betrieb verlassen würde.

 

 

Kurz nach Vier stehe ich auf, obwohl ich mich wie gerädert fühle und wandele mit Sport- und Schwimmsachen bewaffnet durch die leeren Gänge, in denen ich mir vorkomme wie auf einem Geisterschiff. Eigentlich bin ich zu müde für Sport, aber es wird schon gehen. Wieder bekomme ich mein Handtuch mit einem strahlenden Lächeln überreicht. Der mir sehr sympathische Herr, der mich beim ersten Zirkeltraining freundlicherweise eingewiesen hatte, grinst mich einladend an und verleitet mich dazu, auch mit diesem zu beginnen.

          Ich grüße höflich und platziere mich, bei roter Ampel, zwei Plätze hinter ihm. Als ich bei Grün versuche die Gewichte anzuheben, tut sich nichts und ich muss das Trainingsgewicht halbieren, weshalb ich fragend zu ihm hinüberschiele. Er ist bestimmt schon sechzig Jahre alt, stemmt aber das Doppelte wie ich, obwohl er absolut nicht wie der klassische Bodybuilder aussieht.

          Während der nächsten halben Stunde erfahre ich, dass er Uwe heißt, bereits neunundsechzig Jahre alt ist und jeden Tag um diese Uhrzeit trainiert. Nach der zweiten Runde sind wir per „Du“ und ich kenne sein halbes Leben. Er ist Arzt im Ruhestand und zusammen mit seiner Frau, seinen Kindern und Enkelkindern an Bord gekommen. Uwe hat Krebs, kämpft seit drei Jahren um sein Leben und weiß nicht wie viele Tage ihm auf Erden bleiben. Aber er scheint es sportlich zu nehmen und den inneren Kampf bereits durchgestanden zu haben.

Er sieht glücklich aus, genießt die Reise in vollen Zügen, nimmt alles mit was er kann, was mich sehr nachdenklich stimmt. Haben wir das gleiche Ziel? Kämpfen wir beide um unser Leben? Irgendwie schäme ich mich, bin ich doch hier, um selbst die Entscheidung zu treffen ob ich mein Leben weiterführe oder nicht. Aber befinde ich mich denn nicht in der gleichen Situation wie er, führe ich nicht den gleichen aussichtslosen Kampf gegen meine Krankheit?

 

Was mein Leben betrifft halte ich mich sehr zurück, aber Uwe erzählt gerne. Er hat seine ganze Familie auf die Marena eingeladen, um Zeit mit seinen Liebsten zu verbringen, wenigstens etwas von dem nachzuholen was ihm sein hektisches Arbeitsleben in der Klinik verwehrte.

Nach dem Training entspanne ich meine strapazierten Muskeln im Außenpool, lasse mich wieder unzählige Male durch den Strömungskanal spülen, teilweise mit geschlossenen Augen, bis ich vom warmen Wasser müde werde und beschließe das Becken zu verlassen, bevor ich einschlafe.

Ich bin ganz aus der Zeit und muss erst überlegen wie der weitere Reiseverlauf aussieht. Heute ist der erste von zwei aufeinanderfolgenden Seetagen. Auf dem Weg nach Tromsø passieren wir morgen, um ein Uhr früh, den nördlichen Polarkreis, was direkt in der Nacht mit der Neptuntaufe und einer damit verbundenen großen Party gebührend gefeiert wird.

 

Es klopft aus meiner Badetasche, das kann nur Julia sein.

 

 

„Es ist sehr schön, dein Steinmännchen, ich finde es gar nicht kindisch. Ich beneide dich gerade richtig um diese Reise, was ein Glück dass dich das Tor zur Hölle nicht verschlungen hat. Wie du siehst gibt es auch Dinge welche sich plötzlich und unerwartet zum Guten wenden.

Mir geht es gerade nicht so gut, ich glaube ich kündige.

DD Julia“

 

Oh, das ist selten, dass es Julia nicht gut geht. Macht sie einen Scherz? Am besten ich antworte sofort.

 

„Du Arme, was oder wem willst du kündigen und warum?

Meine Freundschaft? Deinen Job? Tom?“

 

 

„Toc, Toc, Toc,“

 

„Den Job als Mutter. Ich bin keine Mutter mehr, mittlerweile nennt mich auch Emil Jula, weil er genau weiß, dass er mich damit zur Weißglut bringt, oder vielleicht auch nur um Aufmerksamkeit zu erlangen.

Manchmal könnte ich die Kröten ungespitzt in den Boden rammen, aber das bringe ich natürlich nicht übers Herz.

Habe bereits gedroht eine riesige Portion Eis vor ihren Augen zu essen, ohne etwas abzugeben, wenn ich das Wort Jula noch ein einziges Mal höre, aber es zieht nicht.“

 

 

„Arme Jula, eine Runde Bedauern für dich. Schnief, schnief.

Es gibt Schlimmeres auf der Welt, oder?“

 

 

„Toc, Toc,Toc,“

L

 

 

Ich glaube, jetzt habe ich Julia etwas verärgert, das hat sie wirklich nicht verdient.

 

 

„Sorry, meine Liebe, tut mir leid, dass ich in die gleiche Kerbe geschlagen habe, werde es wieder gut machen.

Ich drück dich ganz doll und gebe dir einen dicken Schmatz auf beide Backen. Gruß an die frechen Kröten!

HDGDL“

 

 

Ich denke das wird sie besänftigen.

 

 

„Toc, Toc, Toc,“

J

 

 

Na also, geht doch, sie hat sich wieder eingekriegt.

 

 

Über die Terrasse des Lotus gelange ich auf das Pooldeck. Scheinbar gemächlich schiebt sich die Marena auf dem Europäischen Nordmeer in Richtung des nördlichen Polarkreises.

Auf unserer Steuerbordseite begleitet uns, still und leise, ein weiterer Kreuzfahrtriese, mit gleichem Kurs, jedoch etwas schneller als wir. Die unzähligen Kabinenfenster spiegeln das goldene, sanfte Sonnenlicht hundertfach wieder und lassen das mächtige Schiff wie einen schwimmenden Palast erscheinen. Alles ist ruhig und friedlich, wir sind vereint mit der Natur, was mich veranlasst ein paar tiefe Atemzüge der salzigen, frischen Luft zu inhalieren. Lediglich die dunkle Rauchfahne der gigantischen Schornsteine gibt dem Bild einen leichten Makel.

Wir fahren parallel zur norwegischen Küste, die sich bei dieser großen Entfernung jedoch nur undeutlich abzeichnet. Ich könnte ewig hier stehen bleiben, aber es fröstelt mich, ohne Jacke ist es einfach schon zu frisch und ungemütlich, was mich dazu antreibt in den schützenden Rumpf zurückzukehren. Während ich eine Vielzahl von Treppenstufen überwinde, rubbele ich mir die unangenehme Gänsehaut von meinen Armen. Schließlich lande ich auf Deck 6 und entschließe mich die Gänge entlang zu schlendern, um zu schauen was hier zurzeit abgeht.

Aus der Marena Bar dringt sehr gefühlvolle, schöne Musik an meine Ohren, was meine Neugier schlagartig weckt. Ich werfe einen Blick hinein und sehe ein circa vierzehn bis fünfzehnjähriges Mädchen in einem engen, dunkelblauen Kleid am Flügel sitzen, die ihr ganzes Herz in dieses einprägsame Stück hineinlegt. Wenig später ergreift ein vielleicht zwölfjähriger Junge in Anzug und Fliege das Mikrofon und begleitet das Mädchen. Er singt nicht perfekt, aber es ist zu spüren, dass er alles gibt. Das was er tut scheint ihm wichtig zu sein und seine Stimme ist so klar und herzergreifend, dass sie meine Seele zutiefst berührt und meine Arme erneut mit Gänsehaut überzieht.

         Die Bar ist nicht abgetrennt, also für alle Passagiere geöffnet, aber es handelt sich wohl um eine private Feier. Erst als ich Uwe freudestrahlend und mit Tränen in den Augen erblicke weiß ich, um was es sich hier handelt. Er feiert, umgeben von seinen Liebsten, gerade seinen siebzigsten Geburtstag. Es sind sicher seine Enkel, die ihm dieses wunderschöne Stück zu seinem Festtag präsentieren. Ich bin total ergriffen, habe selbst Tränen in den Augen. Wie schön muss es sein wenn man so verehrt wird, wenn man von der ganzen Familie gefeiert wird, wenn einem die äußerst talentierten Enkel ein so ergreifendes und sehr kostbares, unvergessliches Geschenk machen. Ich freue mich sehr für Uwe, aber mir geht es gerade nicht so gut, du wirst es dir denken können warum.

          Nach dem Applaus für das unglaublich schöne, aus tiefster Seele kommende Musikstück fallen ihm sämtliche Familienmitglieder um den Hals und gratulieren. Sie sind alle so herzlich, ich kann es ihnen ansehen, vielleicht spüren sie, dass die Zeit für Uwe knapp wird. Wie schön es sein muss sich von seiner Frau, von seinen Kindern und von seinen zahlreichen Enkeln so feiern zu lassen, eine so große Familie zu haben. Eine Frau, mehrere Kinder und viele Enkel. Opa zu sein, stolzer Opa zu sein, so wie es Uwe ausstrahlt, das ist ein Gefühl das man sich auf der ganzen Welt nicht kaufen kann.

 

Es ist ein Lebenswerk und es wäre gelogen wenn ich sagen würde, dass ich nicht ein wenig neidisch auf ihn bin. Es macht mir meine Einsamkeit gerade besonders bewusst, denn in diesem Augenblick muss ich an meinen eigenen Familienstand denken. Eigentlich trifft das Wort Familie nicht auf mich zu. Keine Eltern, kein Gatte, keine Kinder und somit natürlich auch keine Enkelkinder, aber ich gönne es Uwe von ganzem Herzen. Er wirkt heute besonders stolz auf mich und sehr, sehr glücklich. Wie gerne würde ich ihm gratulieren, stehe noch einen Moment unentschlossen da, aber ich traue mich nicht die Privatsphäre dieser trauten Familienfeier zu stören.

         Noch bevor ich mich abwenden kann hat mich Uwe entdeckt, winkt mir strahlend zu, während er sich bereits schnellen Schrittes auf den Weg macht, um mich, wie ein Familienmitglied, mit einer herzhaften Umarmung zu begrüßen. Nach meinen Glückwünschen lässt er mir keine Chance zu fliehen, Uwe legt einen Arm um meine Schulter, schiebt mich hinein, stellt mir die einzelnen Mitglieder seiner sehr liebenswürdigen Familie der Reihe nach vor und ruckzuck bin ich eingeladen.

Natürlich habe ich mich etwas gewehrt, zumindest des Anstands wegen, aber gegen Uwes holländischen Charme komme ich ohnehin nicht an. Er ist mit einer deutschen Frau verheiratet und wohnt schon sehr lange in Deutschland, sein holländischer Akzent, den ich sehr liebe, ist ihm jedoch bis heute erhalten geblieben. Ich ziere mich nur der Form halber, weil ich nicht weiß ob ich das traute Familienzusammensein mit meiner Anwesenheit störe, aber eigentlich fühle ich mich pudelwohl hier. Seine ganze Familie ist sehr offen und nimmt mich sofort herzlich auf.

Wir singen gemeinsam „Zum Geburtstag viel Glück“ und „Wie schön dass du geboren bist“, und anschließend stoßen wir mit einem Glas Champagner auf Uwe an. In Gedanken drücke ich ihm alle Daumen, dass er seine Krankheit besiegen kann und den Enkeln dieser tolle Opa noch lange erhalten bleibt. Weil ich der Meinung bin nicht länger stören zu dürfen, verabschiede ich mich nach einer rasend schnell vergangenen und sehr schönen Stunde von Uwe, der mich innig drückt. Sein prüfender Blick sagt tausend Worte, er scheint zu spüren, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist.

 

Das eben war ein sehr beeindruckender und schöner Moment für mich, vielleicht der schönste Moment der Reise, an den ich sicher noch lange denken werde. Uwes Familie war einen kurzen Augenblick lang auch meine Familie, so habe ich es zumindest empfunden. Ich hoffe, dass wenigstens du dein Leben nicht so einsam fristen musst wie ich, hoffe, dass du Menschen um dich herum hast die dich lieben und schätzen.

Mein Herz schmerzt, denn im Moment komme ich mir besonders einsam vor, was mich ziemlich runter zieht. Ich streife wie ein einsamer Wolf durch die unterschiedlichsten Bereiche, an einigen Bars vorbei, bis ich im Atrium lande, in dem die heute angekündigte Eis-Show zur Einstimmung auf die Neptuntaufe bereits voll im Gange ist. Im gläsernen Aufzug empfängt mich eine sehr hübsche Eisprinzessin mit blauen, seidenen Haaren, einer silbernen, funkelnden Krone und einem hochglänzenden Kleid aus silbernem und meeresblauem Organza. Komplettiert wird das Outfit durch blaue Handschuhe und ihrem gänzlich silberfarben geschminkten Gesicht, was sehr spacig wirkt. Ich blicke auf die andere Seite, und dort sind es Eisfeen, welche die Gäste in den Aufzügen begleiten.

 

 

                                                                                    Tag 7 Seetag – Arctic Circle

 

Kurz nach Zwölf verrichtet mein Wecker seinen Auftrag vehement mit einem erbarmungslosen, nicht endenden und immer schneller werdenden herzlosen Piepen, das es tatsächlich schafft, mich aus meinem ausnahmsweise mal tiefen und erholsamen Schlaf zu reißen. Mein Herz pocht, es weiß gerade nicht wie ihm geschieht, es ist einfach keine passende Zeit, um aufzustehen.

Es ist mitten in der Nacht, trotzdem scheint es draußen glockenhell zu sein, was mir die Lichtstreifen rund um die Vorhänge verraten. Mein tiefstes Inneres signalisiert mir, dass etwas nicht stimmt, empfiehlt mir weiter zu schlafen. Wie dumm muss ich eigentlich sein mitten in der Nacht aufzustehen, trotzdem rappele ich mich auf, damit wir die Taufparty nicht verpassen. Du brauchst es natürlich nicht mitten in der Nacht zu lesen, vermutlich ist es um diese Zeit ohnehin dunkel bei dir, aber es steht dir natürlich frei.

 

Auf dem Schwimmdeck herrscht dichtes Gedränge und das Spektakel ist bereits voll im Gange. „Blue Nose Day“, wusste gar nicht dass es das gibt, alle Partygäste haben blaue Nasen und auch mich erwischt es nach wenigen Minuten. Ein zum Eisbären verkleidetes Crewmitglied taucht einen Schaumstoffwürfel in königsblaue, pampige Farbe und drückt mir das Teil auf die Nase. Irgendwie kindisch, aber ich muss grinsen. Bin ja nicht die einzige die doof aussieht, nur du bekommst nichts ab, was du sicherlich verschmerzen kannst. Ein Blick über die Reling offenbart einen nicht endenden Sonnenuntergang, was eigentlich das falsche Wort dafür ist, denn die Sonne geht heute nicht unter. Aber ihr Farbspektrum ist in dieser besonderen Nacht anders, als ich es kenne. Die von blutrot bis tiefblau gefärbten Wolkenbänder strahlen ein eher kühles Licht aus, das, wie ich finde, sehr gut zum Arctic Circle passt und eine ganz besondere Stimmung in mir aufkommen lässt.

Die hübschen Eisfeen und Eisprinzessinnen verteilen giftgrüne Cocktails an die Täuflinge, auf die bereits der grandios verkleidete Neptun mit Dreizack auf seinem Thron wartet.

Die Schlange ist lang, aber die Gäste sind geduldig. Ich bekomme, wie alle Täuflinge, die Liste der Fischnamen gereicht und suche mir gleich zwei Namen aus, du sollst ja nicht zu kurz kommen. Nachdem ich für E, wie Elena, keinen schönen Fischnamen gefunden habe, nehme ich einen mit C, für Carmen, meinem zweiten Vornamen. Für dich wähle ich einen mit Anfangsbuchstaben L, wie Laterne, weil ich mit deinem Namen im Trüben fische.

Die früher bei Seeleuten zu diesem Anlass übliche Reinigungszeremonie bleibt uns zum Glück erspart. Nach ein paar symbolischen, frischen Spritzern Wasser auf meine Füße knie ich ehrfürchtig vor Neptun nieder, der mich feierlich auf den Namen Clownbarbe tauft. Im Geiste lasse ich dich auf den Namen Laternenfisch taufen und hoffe, dass du damit zufrieden bist.

Mit einem Tusch der „Blaunasenband“ wird das grandios anmutende Buffet eröffnet, das überwiegend aus einer Fülle feinster Fischspezialitäten und Meeresfrüchten besteht.

Die massiven Eisfiguren aus dem Atrium zieren nun das Deck und trotz der niedrigen Temperaturen, beginnen sie zu schwitzen und tropfen sich schlank. Der ebenfalls blaunasige, fortwährend lächelnde Barkeeper könnte im Zirkus auftreten, jongliert völlig unangestrengt mit mehreren Bechern gleichzeitig, um die diversen Cocktails der Gäste ordentlich durchzumixen.

 

In einem der dampfenden Infinity-Whirlpools sitzen zwei junge, vergnügte Pärchen. Zum Schutz vor der Kälte tragen sie golden glänzende Bärenfellmützen mit Öhrchen, was ich besonders cool finde. Sie lassen es sich gut gehen, die Männer jeweils mit einem Bierkrug und die Mädels mit einem Glas Sekt in der Hand, prosten sie sich im tosenden Wasser zu.

Ach ja, Infinity-Pool, falls du den Namen nicht kennst, so werden auf der Marena die Whirlpools genannt, welche direkt in die Reling integriert sind, in denen man nur durch eine Glasscheibe vom tiefen Abgrund getrennt ist, was dem Nutzer eine unendliche Weite vermittelt. Es herrscht eine ganz besondere Stimmung hier auf dem Pooldeck, echt schwer zu beschreiben, irgendwie total bizarr.

         Hunger habe ich keinen, Appetit schon, denn das Buffet mit seinen außergewöhnlichen Schätzen lockt und verleitet mich dazu immer wieder erneut zuzugreifen. Ich schlemme mich durch das vielfältige Angebot, koste Hummer, Kaviar und ein Stück von der butterzarten Lachsseite.

Die Gäste mit den Bärenfellmützen gehen mir nicht aus dem Kopf. Irgendwie echt krass, vielleicht sollte ich heute auch ein bisschen verrückt sein, passend zu meiner blauen Nase und mich am Arctic Circle mitten in der Nacht im Whirlpool vergnügen. Ich kämpfe mit meinem inneren Schweinehund, traue ich mich oder nicht? Nach einem weiteren Glas Sekt ziehe ich mich auf der Kabine um und betrete das Deck im Bademantel. Ein Infinity-Whirlpool auf der Seite des vermeintlichen Sonnenuntergangs ist gerade frei geworden und nachdem ich mich, umgeben von meist gut eingemummten Gästen, etwas schüchtern aus meinem Bademantel gepellt habe, steige ich in das wohlig warme Wasser. Wenig später, die Wasseroberfläche liegt nun ganz ruhig vor mir, blicke ich direkt in die unendliche Weite des dunkelblauen Meeres, dessen Kabbelwellen im Licht der Sonne aufblitzen wie kleine Sternchen.

Die Tatsache, dass mich nichts vom tiefen Abgrund zu trennen scheint, lässt meine Höhenangst aufleben und ich denke kurz darüber nach, dass es mich beim Bruch der Scheibe unweigerlich nach draußen spülen würde. Nein, nicht jetzt, wo es gerade so schön ist. Eine der Eisfeen mit silber glänzendem, lockigen Haar reicht mir ein weiteres perlendes Glas Sekt, das ich auf Neptun trinke, den Gott der Meere, der mir dieses schöne Erlebnis heute beschert.

Es ist schwer zu beschreiben, ich befinde mich in einem Umfeld das sich gerade äußerst unwirklich anfühlt, allerdings sehr besonders und zumindest für mich wahnsinnig beeindruckend.

 

Aus dem Gewirr der Stimmen höre ich plötzlich ein „Guten Morgen, die Dame“ heraus, das hoffentlich nicht mir gilt. Als ich meinen Kopf drehe sehe ich, obwohl ich gar nicht nach unten schaue, als erstes quietschgelbe Schuhe, die mir förmlich in die Augen springen und sofort einen Generalalarm, bis in die Zehen und Fingerspitzen hinein, in meinem Körper auslösen.

Der Fünf-Minuten-Mann blickt von der Seite auf mich herunter, was meinen Puls sofort in die Höhe schnellen lässt und mich dazu veranlasst, mein im Laufe der Zeit etwas zu klein gewordenes Bikinioberteil zurechtzurücken, um dem tiefen Einblick Einhalt zu gebieten. Ich möchte nicht unhöflich erscheinen und grüße ihn. Flucht ist ohnehin gerade nicht angesagt. Natürlich wieder im feinsten Zwirn mit Krawatte und wie aus dem Ei gepellt steht er vor mir, was ich irgendwie fies finde. Wenigstens die blaue Nase entstellt ihn etwas.

 

„Übrigens, ich bin Daniel, die Doggerscharbe, aus der Familie der Schollen“, stellt er sich kurz vor. „Elena“, stottere ich, um zu vermeiden nochmals mit dem altmodischen Wort Dame angeredet zu werden und hebe gleichzeitig mein Glas zum Anstoßen, obwohl ich das für keine gute Idee halte.

Kurz darauf sind wir per „du“ und nach weiteren zwei schnellen Gläsern Sekt zieht auch er sich um und ehe ich mich versehe, sitzen Clownbarbe und Doggerscharbe gemeinsam im Pool, zwangsweise ganz nah beieinander. Ja, er war höflich, hat um Einlass gebeten, obwohl der Whirlpool öffentlich ist. Ich muss ihn mir weder schön reden noch trinken, er ist ein wirklich gut aussehender, stattlicher Mann. Trotzdem wehrt sich alles in meinem Körper, mich näher auf so einen Macho einzulassen, heute allerdings nicht mehr so energisch.

         Verdammt hat der einen gestählten Body, ist mir im Anzug völlig entgangen, denke ich bewundernd. Nicht die klassische Bodybuilderfigur mit breitem Oberkörper und unten herum Schmalhans, sondern einfach durchtrainiert, muskulös und mit Sixpack. Vermutlich rennen ihm sämtliche Weiber hinterher, liegt er jede Nacht auf einer anderen Kabine. Da möchte ich mich jedenfalls nicht mit einreihen. Er schaut mich fragend an, was mir das Gefühl gibt, dass er gerne wüsste was ich über ihn denke. Heute ist er allerdings sehr nett, fällt nicht gleich mit der Tür ins Haus und hält sich zurück, nach dem Motto: ich habe verstanden.

 

Ich stiere staunend in das leuchtende Wolkenmeer, das sich ständig anders formiert, immer wieder ein neues, beeindruckendes und einmaliges Kunstwerk kreiert. Mit dem Rücken vorsichtig an der Glasbrüstung angelehnt, lasse ich mich von Daniel fotografieren. Elena, die Sonne und das Meer, ein tolles Bild, das ich Julia senden möchte.

Während wir die polare Nacht in trauter Zweisamkeit, eng nebeneinander sitzend, wie ein Ehepaar genießen, genehmigen wir uns eine weitere Runde Sekt, man gönnt sich ja sonst nichts. Ich war nicht darauf vorbereitet, weil ich es im lebhaften Blubberwasser einfach nicht sehen konnte, weshalb es mich wie ein plötzlicher Stromschlag trifft, der mich heftig zusammenzucken lässt. Es ist seine Hand, die ich auf meinem Oberschenkel spüre, die meinen Puls, der sich gerade erst wieder etwas beruhigt hatte, erneut zum Galoppieren bringt.

Ich möchte seine Hand wegschieben obwohl sie mir gut tut, aber ich bin wie gelähmt. Vielleicht möchte ich mich gar nicht wehren, nicht nur den Sekt, sondern auch die Gefühle in meinem Unterleib prickeln lassen. Mein tiefstes Inneres hofft auf mehr, als nur zärtliche Berührungen, obwohl mir mein Verstand keine großen Hoffnungen machen möchte.

Während seine Hand noch sanft auf meinem Schenkel ruht, schauen wir uns tief in die Augen, ich eher erstaunt, aber vielleicht auch mit etwas Sehnsucht, Daniel eher forschend. Er scheint mich zu taxieren und nachdem er keine abwehrende Reaktion von mir bekommt, setzt er seinen Angriff fort, streicht seine Hand nun zart an meiner Haut entlang, während wir uns nach wie vor in die Augen schauen.

          Nachdem ich seinem direkten Blick nicht länger stand halte, schließe ich meine Augen, versuche das hässliche Wort Doggerscharbe aus meinen Gedanken zu verdrängen und die wohltuenden Streicheleinheiten zu genießen. Mein Gott, wie lange ist es her, dass mich ein Mann berührt hat. Daniel ist vorsichtig, trotzdem wandert seine Hand kontinuierlich weiter in Richtung der Innenseite meiner Schenkel, was meine schwachen Abwehrkräfte weiter schmelzen lässt.

Seine zärtlichen Berührungen strahlen weit aus, bis tief in meinen Unterleib hinein, der eine Art Suchtgefühl nach mehr in mir aufkommen lässt. Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach, das gilt heute für mich, allerdings anders interpretiert. Mein Geist ist willig zur Verteidigung, aber mein Körper ist längst schwach geworden, es ist die Gier nach Befriedigung die gerade in ihm aufkeimt. Er ist willig der Versuchung nachzugeben, weshalb sich meine Schenkel, ganz ohne mein Zutun, bereitwillig öffnen, in Erwartung dessen, seine Hand an ganz anderer Stelle zu spüren.

 

Ach ja, du musst das nicht lesen, es gehört zwar zu meiner Geschichte, aber du kannst die nächsten Zeilen auch überspringen.

 

Er weiß was zu tun ist und nimmt die Einladung ohne Verzögerung an. Ich lehne mich zurück, schließe erneut die Augen und genieße das erotische Prickeln, das seine Hand zwischen meinen Beinen auslöst. Schon nach kurzer Zeit bebt mein Körper, am liebsten würde ich mein Bikinihöschen abstreifen und mich sofort, hier an Ort und Stelle, unter den Augen der Gäste ordentlich durchvögeln lassen, was allerdings nur meiner Fantasie vorbehalten bleibt.

Meine rechte Hand liegt permanent auf dem Startknopf, um unsere Tarnung durch die blubbernden Luftblasen aufrecht zu erhalten, aber meine Linke ist frei. Ich nutze die Gelegenheit, um Daniel zwischen die Beine zu fassen und das, was ich nun in der Hand halte sagt mir: ich bin bereit, äußerst bereit.

Als sich seine Hand, für mich eine fremde Hand, vorsichtig unter den Stoff meines Bikinihöschens schiebt, stöhne ich auf. Hoffentlich hat es niemand gehört, denke ich, während ich die Beine intuitiv zusammenpresse.

Ein Blick von mir, zwei Worte von Daniel: „Zu mir?“, ein Nicken von Clownbarbe und wir sind uns einig. In freudiger Erwartung steige ich zuerst aus dem Whirlpool, gut dass man Frauen die Erregung nicht so offensichtlich ansehen kann, und halte seinen Bademantel, mit einem leichten Grinsen, weit geöffnet am Ausstieg bereit, damit niemand seinen Ständer sehen kann.

Er nimmt mich an der Hand, ich lasse es geschehen, wir sind gierig, hasten durch die Gänge, als ob es um unser Leben ginge und reißen uns in seiner Suite sogleich die nassen Sachen vom Leib …

 

 

                                                                                           Ende der Leseprobe!